Von Susan Bonath
Diese Woche warf ein Ereignis im Berliner Parlament ein grelles Licht auf die Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit in der deutschen Politik: Am 29. Januar 2025 erkärte der Bundestag erstmalig offiziell, dass “die Opfer der NS-‘Euthanasie’ und die Opfer von Zwangssterilisationen als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen sind”. Diese Anerkennung erfolgt nahezu acht Jahrzehnte nach dem Ende des Faschismus.
Vergast, vergiftet, verhungert
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Nationalsozialisten in vermeintlichen “Heilanstalten”, die tatsächlich Vernichtungslager waren, etwa 300.000 Menschen umbrachten. Unter ihnen befanden sich mindestens 5.000 Kinder mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Im Rahmen der berüchtigten “Aktion T4”, benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, ermordeten sie allein rund 70.000 Menschen. Die meisten Opfer wurden von NS-Ärzten mit Kohlenmonoxid vergast, andere wurden vergiftet oder schlichtweg verhungert gelassen.
Nazi-Ärzte verwendeten auch “aussortierte” Kinder für medizinische Experimente oder verabreichten ihnen tödliche Dosen von Morphium oder Luminal, ein Barbiturat, das heute in der Anästhesie und zur Behandlung von Epilepsie verwendet wird. Eines der dokumentierten Opfer dieser Gräueltaten war der 14-jährige Ernst Lossa, der 1944 durch eine Injektion eines giftigen Medikaments getötet wurde.
“Lebensunwertes” Leben in der Nachkriegs-BRD
Die Nationalsozialisten beriefen sich auf die sozialdarwinistischen, eugenischen Theorien über “lebensunwertes Leben”, die sie öffentlich idealisierten und als “schönen Tod”, eine “Erlösung” für ihre Opfer, darstellten. Trotz zahlreicher Dokumente und Zeugenaussagen über die grausamen Methoden ihrer Ermordung, hielt sich diese Propaganda auch nach dem Krieg in der Bundesrepublik Deutschland.
Beispielsweise sprach das Landgericht Frankfurt am Main 1967 drei Ärzte frei, die an der Vergasung von Kranken beteiligt waren, mit der Begründung, die Angeklagten hätten “annehmen müssen, dass deren Tötung erlaubt war”. Die Richter erklärten sogar, dass die Methode der Vergasung im Sinne des Strafrechts “nicht grausam” gewesen sei. Viele Täter setzten ihre Karrieren im Westen fort.
“Westlich-demokratische” Nazigesetze
Im Gegensatz zur sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR blieben in der BRD nicht nur viele Personen, sondern auch Nazigesetze, wie das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses”, weiterhin in Kraft. Somit wurden etwa 400.000 Überlebende von Zwangssterilisationen nicht als Opfer des Faschismus anerkannt. Der Bundestagsausschuss für Wiedergutmachung argumentierte 1961, dass es sich um ein “Gesundheitsgesetz” handle und dies kein Verbrechen sei.
Der Gutachter Hans Nachtsheim, auf den sich der Bundestag damals berief, war sogar an medizinischen Menschenversuchen unter den Nazis beteiligt. Im Ausschuss wurde die Notwendigkeit von Eugenik für ein “Kulturvolk” betont.
Gestern und heute “arbeitsscheu”
Die Nationalsozialisten verfolgten nicht nur Menschen mit Behinderungen gemäß ihrem “Erbgesundheitsgesetz”, sondern auch jene, die sie als “asozial” oder “arbeitsscheu” betrachteten. Viele davon wurden in Konzentrationslager deportiert und dort durch harte Zwangsarbeit vernichtet. Diese Tatsache wurde in der Debatte im Bundestag kaum erwähnt. Kein Wunder, denn die Parallelen zu heutigen politischen Rhetoriken und Praktiken sind auffällig.
Heute wird im Zweiten Sozialgesetzbuch ähnlich argumentiert: Menschen, die Arbeitsangebote ohne triftigen Grund ablehnen oder Maßnahmen nicht antreten, können Sanktionen in Form von Leistungskürzungen erfahren.
Sozialdarwinismus als Systemkonstante
Möglicherweise aufgrund der frappanten Ähnlichkeiten wurden weitere Reflexionen vermieden. Stattdessen beschränkte man sich im Bundestag darauf, die Naziideologie als singuläres, isoliertes Ereignis darzustellen. Die Realität zeigt jedoch, dass der Sozialdarwinismus tief im System verwurzelt ist, erkennbar daran, wie Unternehmen und ihre Verbände Menschen offen als “Humankapital” kategorisieren.