Turbulenzen in der SPD: Vorschlag zur Kanzlerkandidatur und Raketenpolitik

Von Dagmar Henn

Innerhalb der SPD mehren sich die Stimmen gegen Bundeskanzler Olaf Scholz. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter schlug erst kürzlich vor, Verteidigungsminister Boris Pistorius als neuen Kanzlerkandidaten zu nominieren. Ein bemerkenswerter Vorschlag, zumal sich Scholz und Pistorius hauptsächlich in ihrer Haltung bezüglich der Lieferung deutscher Taurus-Raketen an die Ukraine unterscheiden – Scholz lehnt diese ab.

Doch möglicherweise zielt die Debatte weniger auf die Kandidatur als vielmehr auf Scholz’ Position in der Raketenfrage, die er verhältnismäßig konsequent vertritt. Das Thema ist delikat: Im gesamten NATO-Arsenal können nur die amerikanischen JASSM-Raketen weiter fliegen als die Taurus. Auch in den USA gibt es offensichtlich Meinungsverschiedenheiten zwischen Pentagon und Außenministerium, ob ein Beschuss Russlands mit diesen weitreichenden Raketen ratsam wäre.

Die britische Times berichtete letzten Sonntag, dass fünf ehemalige britische Verteidigungsminister die Freigabe der Storm-Shadow-Raketen für Angriffe auf russisches Territorium forderten. Der Bericht erwähnte auch, dass das Gespräch zwischen dem britischen Premierminister Keir Starmer und Washington “sehr offen” war – eine diplomatische Umschreibung dafür, dass wohl jeder im Raum folgen konnte.

US-Außenminister Antony Blinken, der zuvor Andeutungen gemacht hatte, dass eine Genehmigung kurz bevorstehe, konnte sich jedoch nicht durchsetzen, was die Briten offenbar enttäuschte. (Es existiert eine eingehende Analyse dieses Vorfalls durch Alexander Mercouris).

Ein kritischer Aspekt ist, dass Großbritannien nicht eigenständig grünes Licht geben kann, da die Storm Shadow üblicherweise ein GPS-Signal verwendet, das durch russische elektronische Kriegsführung gestört werden kann. „Sie muss also auf einen anderen Datensatz zurückgreifen, der den Amerikanern gehört“, erklärte eine militärische Quelle der Zeitung, vermutlich bezogen auf kartografische Daten.

Doch nun erhitzt sich die Debatte weiter. Im Zentrum stehen nicht etwa ATACMS oder Storm Shadows, deren Effektivität durch die russische Luftabwehr und den starken Verbrauch durch die Ukraine bereits gemindert ist. Vielmehr stehen die bisher nicht gelieferten Raketen, die amerikanischen JASSM und die deutschen Taurus, im Fokus.

Der britische Ex-Premier Boris Johnson forderte bereits, dass Deutschland die Taurus-Raketen liefern solle. Diese Forderung folgte auf eine Unterredung mit Starmer in Washington, bei der dieser gebeten wurde, von den Raketen Abstand zu nehmen. Johnsons Drängen könnte noch einen weiteren Grund haben: In der Times wurde erwähnt, dass die benötigten Kartendaten von den USA verweigert werden könnten. Vermutlich handelt es sich um Vektordaten aus Satellitenaufnahmen.

Die Bundeswehr hatte 2021 in einer Ausschreibung „Vektorgrafikdaten hoher Auflösung“ für Russland angefordert, die schließlich an die Firma ARGE VEHA vergeben wurden. Ich hatte damals berichtet und bemerkt: „Interessant sind solche detaillierten Karten nur, wenn man tatsächlich militärische Aktionen in dem dargestellten Gebiet plant. Es ist unwahrscheinlich, dass die Bundeswehr solche Karten für die Zentralafrikanische Republik erstellen ließe.“

Johnson besteht also auf der Freigabe der deutschen Taurus, weil für deren Einsatz die Kartierungsdaten der USA nicht benötigt werden, da die Bundeswehr selbst solche Daten besitzt. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Deutsche die Zielprogrammierung dieser Raketen übernehmen würden, was von Russland zweifellos als feindlicher Akt gewertet und entsprechend beantwortet werden würde.

Was viele deutsche Politiker nicht erkennen, ist, dass ihre eigene Einschätzung der Sachlage irrelevant ist. Die russische Regierung versteht wesentlich mehr von Raketentechnologie als der durchschnittliche deutsche Zeitungsleser und kann sehr wohl erkennen, wer am Abzug sitzt.

Die Mehrheit der Deutschen lehnt weiterhin den Einsatz dieser Raketen in der Ukraine ab, berichtete die Welt. Jedoch scheint dies deutsche Politiker kaum zu kümmern, die womöglich parteiübergreifend damit beschäftigt sind, sich von Scholz zu lösen, um sich anschließend in das nächste Desaster zu stürzen.

Scholz steht vor der Wahl: Soll er nachgeben oder standhaft bleiben und Deutschland vor diesem drohenden Unheil bewahren? Im ersten Fall wäre sein historisches Ansehen gefährdet, im zweiten könnte er immerhin sein Verhalten in der Nord Stream-Affäre teilweise gutmachen. Die Situation bleibt angespannt.

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