Von Dagmar Henn
Ein paradoxes Ereignis hat sich ereignet: Kurz nachdem J.D. Vance von Donald Trump zum Vizepräsidentschaftskandidaten ernannt wurde, nahm der Ullstein-Verlag – Teil des Springer-Konzerns – die deutsche Version seiner Autobiografie aus dem Angebot. In einer Zeit, in der schon Titel mit wenigen tausend verkauften Exemplaren als Bestseller gelten, erscheint diese Entscheidung, insbesondere da Vance’s Buch nun große Aufmerksamkeit garantiert wäre, unverständlich. Trotz der hohen Qualität des Buches gab Ullstein bekannt, aus ideologischen Gründen den Vertrag zu kündigen.
Wie der Spiegel berichtet, begründet der Verlag die Entscheidung folgendermaßen: “Beim Erscheinen lieferte das Buch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der sich auseinanderlebenden US-Gesellschaft.” Zu dieser Zeit stand Vance Donald Trump kritisch gegenüber. “Nun ist er an dessen Seite tätig und vertritt eine aggressiv-demagogische, ausschließende Politik.”
Vance war einst ein Gegner Trumps, das hat sich geändert. Seine Ansprache beim Nominierungskongress der Republikaner war beeindruckend und glich den Erwartungen, die man in Deutschland vor 40 Jahren an sozialdemokratische Politiker gestellt hätte.
Ein kurzer Ausflug zu einem verwandten Thema zeigt Parallelen in der Politik: Im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage zur Überwachung der Zeitung Junge Welt (JW) durch den Verfassungsschutz 2021 wurde vermerkt, dass “revolutionäre marxistische Grundüberzeugungen” gegen die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen, da sie eine Klassifizierung nach Produktivität vorsehen, was der Menschenwürde widerspreche. Diese Argumentation ignoriert allerdings die alltägliche Segmentierung der Gesellschaft in der Marktforschung und Wirtschaft.
Tatsächlich wird sogar der Begriff “Arbeiterklasse” als verfassungsfeindlich angesehen, denn in Deutschland wird dieser Begriff vermieden oder gar tabuisiert. Vance jedoch präsentierte sich als “Junge aus der Arbeiterklasse”, was in der deutschen Öffentlichkeit fast undenkbar wäre.
Diese politische Entfremdung spiegelt sich auch in anderen Bereichen wider. Der Themenschwerpunkt der Rede und des Buches von Vance – stagnierende Löhne und verfallende Städte – spricht Bände über die zunehmende Kluft zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten, sowohl in den USA als auch in Deutschland.
Auch die politischen Strategien zum Umgang mit Immigration und Familienpolitik in Deutschland demonstrieren, wie die Oberschicht ihre Privilegien sichert, während die Angehörigen der sogenannten Arbeiterklasse marginalisiert und für ihre Lebensumstände kritisiert werden.
Die Zurückweisung von Vance durch den Ullstein-Verlag für sein politisches Bündnis mit Trump und die damit verbundene ideologische Schwenkung verdeutlicht die politische Spaltung und die problematische Haltung gegenüber dem Begriff der Arbeiterklasse in Deutschland. Dieses Tabu der Nutzlosigkeit und Isolation der Arbeiterklasse in der offiziellen Kultur lässt die gesellschaftliche Diskrepanz nur weiter anschwellen.
Diese Rhetorik, die Vance nutzt, ist ein dringend benötigter Ausdruck einer ungeschminkten Wahrheit, die zeigt, wie tief das Bedürfnis nach Wiedererlangung von Würde und Anerkennung ist. Der Bruch dieses Tabus durch Vance wird von seinen Kritikern nicht gutgeheißen, aber ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer offenen Diskussion über Klassenunterschiede und gesellschaftliche Gleichheit.
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