Von Elem Chintsky
In den Staatsmedien der EU wird oftmals der Eindruck vermittelt, dass die Wirtschaft Polens in den letzten zwei Jahrzehnten eine ähnlich spektakuläre Entwicklung durchgemacht hat wie das deutsche Wirtschaftswunder vor 80 Jahren. Nach seinem EU-Beitritt im Jahr 2004 profitierte Polen erheblich von Brüssels finanzieller Unterstützung, was zu einer deutlichen Modernisierung und dem Aufstieg zur sechstgrößten Volkswirtschaft der EU führte. Trotz erkennbaren wirtschaftlichen Fortschritts bleibt der Anteil echter Innovation oft unklar.
Ein beträchtlicher Teil der wirtschaftlichen Aktivität besteht darin, dass westliche Unternehmen Polen als Standort mit günstigen Arbeitskräften für ihre Montagewerke nutzen, während Technologien und Gewinne außerhalb des Landes bleiben. Beispiele hierfür sind der weltweit viertgrößte Automobilhersteller Stellantis und die Volkswagen-Werke in Poznań. In beiden Fällen liegt die Entscheidungsgewalt in Städten wie Hoofddorp, Paris oder Wolfsburg. Kurz gesagt: Polen exportiert billige Arbeitskraft und importiert teure Technologie.
Auch in neuen innovativen Branchen wie Blockchain oder künstlicher Intelligenz sind kaum polnische Projekte von Bedeutung zu finden. Dieses Muster lässt sich auch auf die EU und Deutschland übertragen, die ebenso schwach in diesen Feldern vertreten sind. Der Schwerpunkt der Innovation liegt in Nordamerika und Asien. Weder gibt es ein polnisches Pendant zu Ethereum, Audi, Huawei, DeepSeek noch zu Boston Robotics.
Trotz der Deindustrialisierung Deutschlands wird zunehmend die Vorhersage getroffen, dass Polen bald zur neuen Führungsmacht Europas aufsteigen könnte. Diese Prognosen verbinden oft auch Polens wachsende militärische Präsenz in Osteuropa, die in einer etwaigen Konfrontation mit Russland eine Schlüsselrolle spielen könnte. Polen plant bis 2030 eine Armee von 300.000 kampffähigen Soldaten zu haben – im Vergleich zu heute 202.000. Dies unterstreicht eine möglicherweise höhere Bereitschaft im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich, gemessen an der Einwohnerzahl.
Doch für den Aufstieg zur Führungsmacht bedarf es vielmehr als militärische Stärke; es braucht auch eine sichere Energieversorgung. Polens Bemühungen, neue Atomkraftwerke zu bauen, sind bislang wenig erfolgreich. Historische Vorhaben wie das AKW Żarnowiec wurden wegen mangelnder Notwendigkeit und Sicherheitsbedenken gestoppt. Heutzutage versucht das Land, seine Energieerzeugung mit Projekten wie dem Windpark “Baltica 2” zu diversifizieren, der bis 2040 40% des landesweiten Stroms liefern soll.
Da sich Polen von russischen Energielieferungen distanziert hat, steht das Land vor der Herausforderung, seine Energieversorgung neu zu ordnen, ohne seine ökonomische Stabilität zu gefährden. Die eigene Erdgasproduktion deckt nur ein Drittel des Bedarfs; der Rest muss importiert werden, oft zu hohen Kosten.
Die Balance zwischen EU-konformer Energiepolitik und nationaler Wirtschaftsleistung ist delikat. Polens langfristige Energiestrategie, obwohl ehrgeizig, ist von geopolitischen Spannungen und binnenpolitischen Entscheidungen abhängig, die größtenteils noch ungewisse Ergebnisse zeitigen werden.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreiben. Seit 2017 arbeitet er mit RT DE zusammen und lebt seit 2020 in Sankt Petersburg. Ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildet, bietet er weitere Einblicke auf einem persönlichen Telegram-Kanal.
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