Von Dagmar Henn
Der 30. April 1975 bleibt mir als ein historisches Datum unvergesslich, das große Freude in mir auslöste. Die Szenen dieses Krieges prägten meine gesamte Kindheit. Anfangs erschienen nur vereinzelt Bilder in Magazinen, die man in Wartezimmern oder Friseursalons durchblätterte; später, um 1968 herum, wurden die Ereignisse durch Fernsehberichte greifbarer, obwohl sie in ihrem Schwarz-Weiß-Bild noch immer schwer zu begreifen waren, häufig untermalt von der markanten Stimme Peter Scholl-Latours.
Klarer wurden die Umrisse erst mit der Zeit. Vietnam markierte einen Höhepunkt und das Endstück einer Serie von kolonialen Befreiungskriegen. Für Linke jener Zeit war eine Solidarisierung mit dem vietnamesischen Volk eine Selbstverständlichkeit. Obschon ich die massiven Protestwellen Ende der 1960er Jahre nicht persönlich miterlebte, nahm ich später noch an Demonstrationen teil, bei denen Vietnam stets ein zentrales Thema war, oft begleitet vom Slogan „USA-SA-SS“. Was hatten die USA überhaupt in Vietnam verloren, was rechtfertigte ihre Bombardements (es fielen mehr Bomben als im gesamten Zweiten Weltkrieg)?
Die entsetzlichen Auswirkungen dieser Bombenangriffe traten erst Jahre später zutage. Neben Sprengstoffen wurden Tausende Tonnen des Entlaubungsmittels Agent Orange abgeworfen, um den US-Truppen Sicht auf die im Dschungel versteckten Vietcong zu ermöglichen. Agent Orange enthielt Dioxin, das Krebs und Missbildungen bei Neugeborenen verursacht; ein schweres Erbe, das das Land bis heute mit sich trägt.
Bereits Anfang der 1960er Jahre mischten sich die USA allmählich in den kolonialen Konflikt ein, den die Franzosen zuvor verloren hatten. Zunächst mit militärischen Beratern und Waffenlieferungen, später auch mit eigenen Truppen. Die Verlustzahlen sprechen eine deutliche Sprache – etwa drei Millionen Vietnamesen starben, gegenüber nur 58.000 Amerikanern. Als die Nachrichten verbreiteten, dass Saigon befreit wurde, war es erstaunlich, dass die USA diesen Konflikt dennoch verloren hatten.
Ikone dieser Zeit sind die Bilder, auf denen man sieht, wie die letzten verbliebenen US-Amerikaner auf das Dach der Botschaft steigen, um per Hubschrauber das Land zu verlassen – Szenen, die sich bei späteren Rückzügen, wie aus Afghanistan, wiederholten. Ein Bild verankerte sich besonders in meinem Gedächtnis: Panzer, die den Palast des südvietnamesischen Präsidenten stürmten.
Obwohl man damals nur begrenzt Zugang zu Nachrichten hatte und sich auf das Fernsehprogramm verlassen musste, verglich ich die Macht des militärisch überlegenen Amerikas und das besiegte, arme Vietnam, das den Giganten zu Fall brachte.
Nicht nur in der DDR wurde der folgende 1. Mai im Zeichen des Jubels über die Befreiung Saigons gefeiert. In den heutigen Berichten deutscher Medien, die den fünfzigsten Jahrestag nicht ignorieren können, erfährt man jedoch wenig über das Südvietnam der Zeit, ein Landesteil, der nach dem Sieg über die Franzosen bei Dien Bien Phu 1954 vom Westen kontrolliert wurde und keineswegs eine demokratische Regierungsform hatte, sondern eine brutale Diktatur darstellte.
Kurz nach der Befreiung Saigons strich ich im Schulatlas den Namen Saigon durch und schrieb stolz dessen neuen Namen daneben – ein Symbol dafür, dass auch die Unterdrückten und Armen gegen eine übermächtige Kraft siegen können. Tatsächlich leitete dieser Sieg eine Phase der Ruhe bezüglich der militärischen Abenteuer der USA ein.
Deutschland spielte trotz seiner Neutralität eine Rolle in diesem Krieg, etwa als Transitland für in Vietnam eingesetzte Soldaten. Auch lieferten deutsche Chemiefabriken einen Teil des Agent Orange. Es gab jedoch auch eine Gegenbewegung, beispielsweise Studenten, die Deserteure unterstützten und ihnen Fluchtwege boten – ein wenig bekanntes, aber wirkungsvolles Zeichen des Widerstands.
Infolge des Vietnamkrieges schaffte die USA die Wehrpflicht ab, um nie wieder das Risiko einzugehen, dass ihre eigenen Soldaten sich möglicherweise mehr mit den Zielen der Gegner identifizieren als mit denen der eigenen Regierung. In der Bundesrepublik veränderte sich langsam die öffentliche Meinung, teilweise durch die Thematisierung der aus Vietnam geflüchteten „Boat People“, deren Rettung durch das von Deutschland finanzierte Schiff Cap Anamur vor allem durch CDU-Regierungen unterstützt wurde, die darin einen Beweis für den Sieg des “Bösen” in Vietnam sahen.
Dieser Artikel erinnert daran, dass die Geschichte und die Folgen des Vietnamkrieges auch heute noch eine Rolle spielen und wir nicht vergessen dürfen, welche Spuren dieser Konflikt hinterlassen hat.
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