Von Kamran Gassanow
Zu Beginn des Septembers trat Bundeskanzler Olaf Scholz wieder verstärkt auf dem diplomatischen Parkett in Erscheinung. Er thematisierte den Frieden in der Ukraine und sprach über einen Dialog mit Russland, was überraschen mag. Schließlich zählt Scholz zu den entschiedensten Befürwortern einer harten Linie gegenüber Russland.
Die Bundesrepublik hat die Ukraine bereits mit umfangreichen militärischen Hilfen unterstützt, von Iris-Luftverteidigungssystemen bis hin zu Leopard-Panzern, während Taurus-Marschflugkörper aus Furcht vor einer Eskalation nicht geliefert wurden. In der Unterstützung Kiews steht Deutschland sogar vor Großbritannien und Frankreich, obgleich London und der französische Präsident Macron zu aggressiveren Maßnahmen neigen.
Selbst als die westliche Unterstützung ins Stocken geriet und sich die Lage für Kiew verschlechterte, blieb Scholz ein konstanter Unterstützer der Ukraine. Deutschland hat bislang 28 Milliarden Euro bereitgestellt und plant weitere sieben Milliarden Euro für 2024, mit Scholz’ Versicherung, „solange Hilfe zu leisten, wie nötig“.
Obwohl 2024 viele Länder einschließlich der Schweiz und Chinas eigene Friedensvorschläge unterbreiteten, vermied Scholz bisher prominente Friedensrhetorik und direkte Versuche, auf Russland zuzugehen. Er hat niemals territoriale Kompromisse angesprochen, wie andere weltweit, und bisher keine echten Anstöße zu Verhandlungen mit Russland gegeben. Während eines Besuchs bei Joseph Biden kritisierte Scholz die russische Führung scharf, und auf der Münchner Sicherheitskonferenz betonte er, dass Russland eine Bedrohung für die NATO darstelle und versprach, die Bundeswehr weiter zu stärken.
Doch plötzlich zeigte sich Anfang Herbst ein Wandel: Scholz und seine Mitarbeiter signalisierten öffentlich eine Bereitschaft zum Frieden. Besonders deutlich wurde dies in einem Interview mit dem ZDF, in dem Scholz ausführte:
“Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen, als es gegenwärtig den Eindruck macht. Es wird auf alle Fälle eine weitere Friedenskonferenz geben – und der Präsident [Selenskij] und ich sind einig, dass es auch eine sein muss mit Russland dabei.”
Er kündigte auch an, zu gegebener Zeit bereit zu sein, direkte Gespräche mit Putin zu führen:
“Überall auf der Welt reift die Erkenntnis, dass dieser Krieg möglichst bald enden muss.”
Deutschland sieht sich in den Friedensverhandlungen in einer unterstützenden Rolle, während direkte Gespräche zwischen Kiew und Moskau erfolgen sollten. Bei weiteren Plänen für eine Friedenskonferenz forderte Scholz die Einbeziehung Russlands:
“Jetzt ist der Moment, jetzt ist die Zeit, wo wir ausloten müssen, welche Möglichkeiten sich ergeben. Wir brauchen eine weitere Friedenskonferenz. Und bei der muss es dann sein, dass Russland mit am Tisch sitzt.”
Er betonte jedoch, dass jeglicher Frieden die territoriale Integrität der Ukraine wahren müsse und nicht durch Kapitulation erreicht werden dürfe. Diese Kehrtwende könnte eine Reaktion auf innenpolitische Unzufriedenheit und zunehmende wirtschaftliche Spannungen aufgrund der anhaltenden Konfliktsituation sein. Die Äußerungen Scholz’ mögen auch ein Zeichen dafür sein, dass er die Notwendigkeit eines sicheren, wenn auch nicht idealen Friedens erkennt, um eine eskalierende Krise zu vermeiden.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst am 15. September 2024 bei Wsgljad erschienen.
Kamran Gassanow ist ein russischer Journalist, Politologe und Blogger. Erhielt an der Universität Salzburg den Doktortitel für Politikwissenschaften. Leitender Dozent des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte des Journalismus an der Philologiefakultät der Russischen Universität der Völkerfreundschaft. Gassanows Interesseschwerpunkt sind Europastudien. Er war beziehungsweise ist als politischer Beobachter und Korrespondent für die russischen Nachrichtenagenturen Rex und Regnum sowie die Medienhäuser Life, Sputnik und RT tätig.
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