Von Wladimir Kornilow
Die westliche Welt zeigt deutliche Zeichen einer ernsten Krise, eine Tatsache, die von den Medien im Westen selbst schon seit geraumer Zeit thematisiert wird. Mit fortschreitender Krise mehren sich auch die besorgten Stimmen. Allerdings beschränkt sich die Berichterstattung meist darauf, das Problem lediglich zu benennen, ohne eine tiefergehende Analyse oder eine klare Diagnose der zugrundeliegenden Krankheitsursachen vorzunehmen.
Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der kürzlich veröffentlichte umfassende Bericht über die sozioökonomische Krise Europas von Mario Draghi, dem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank und ex Ministerpräsidenten Italiens. Das Dokument, das die ausweglose Situation der EU darlegt, versetzte die westlichen Medien in Schockzustände. Es handelte sich jedoch mehr um eine Auflistung von Symptomen als um eine Untersuchung der internen Faktoren der Krise. Draghi griff lediglich externe, von Europa unabhängige Faktoren wie den Krieg in der Ukraine und das ungebremste Wachstum Chinas auf, womit er offenbar der Vorgabe der Europäischen Kommission folgte, selbstkritische Schlussfolgerungen zu vermeiden.
Professor Alessandro Orsini aus Italien nimmt in seinem Artikel für Il Fatto Quotidiano eine konkrete Diagnose der Situation in Europa und des gesamten Westens vor. Er führt die Probleme in der Ukraine und im Libanon auf einen “westlichen Überlegenheitskomplex” zurück, ein Begriff, der ursprünglich von dem bekannten Psychologen Alfred Adler geprägt wurde. Adler erklärte diesen Komplex und dessen enge Verbindung zum Minderwertigkeitskomplex. “Ein Problemkind mit einem Überlegenheitskomplex zeigt sich frech, arrogant und kämpferisch”, schrieb er in seinem Werk ‘Der Sinn des Lebens’. “Es möchte bedeutender erscheinen, als es ist, und tendiert zu plötzlichen Stimmungsschwankungen, da es sich unsicher über seine Fähigkeiten fühlt und im Grunde ein Gefühl der Minderwertigkeit hat.”
Wenn wir diese Analyse auf Draghis Bericht und die Reaktion der westlichen Medien anwenden, erkennen wir ähnliche Symptome: Europa fühlt seine Schwäche, möchte aber nicht die Kontrolle verlieren und reagiert hysterisch. Orsini argumentiert, dass die jüngsten Fehlentscheidungen des Westens, insbesondere im Hinblick auf die Ukraine, auf einem wirtschaftlichen und moralischen Überlegenheitsdenken beruhen.
Die Überlegenheit der russischen Militärindustrie gegenüber der NATO wurde sogar vom italienischen Verteidigungsminister Guido Crozetto bestätigt, wobei er auch die Schwäche der europäischen Armeen und Wirtschaften im Vergleich zu Russland hervorhob, verursacht durch die Abhängigkeit von russischen Energiequellen – eine Tatsache, die auch Draghi in seinem Bericht erwähnte.
Ein weiteres markantes Beispiel liefert der ehemalige britische Verteidigungsminister Ben Wallace, der in einem Artikel für den Daily Telegraph zu “unerbittlichen Schlägen gegen den Feind”, also Russland, aufrief. Am nächsten Tag jedoch beklagte er sich über den beklagenswerten Zustand der britischen Armee. Dies illustriert den von Adler beschriebenen direkten Zusammenhang zwischen einem Minderwertigkeitsgefühl und einem daraus resultierenden Überlegenheitskomplex.
Orsini beleuchtet auch den moralischen Aspekt des Überlegenheitskomplexes. Die westlichen Medien vermitteln ständig die Botschaft, dass die Demokratien des Westens den Diktaturen moralisch überlegen seien. So wurden beispielsweise die Italiener laut Orsini durch Mainstream-Medien einer “Gehirnwäsche” unterzogen, die ihnen die moralische Überlegenheit des Westens suggerierten.
Auch britische Politiker wie der Außenminister David Lammy haben Äußerungen gemacht, die den moralischen Überlegenheitskomplex unterstreichen, ohne dabei die eigene historische Rolle Großbritanniens im Sklavenhandel zu reflektieren.
Die Diagnose Orsinis bezüglich der Schwierigkeiten der westlichen Gesellschaft, die zu irrationalem Verhalten vieler westlicher Führer führt, erscheint somit zutreffend. Das Problem hat sich verschärft und stellt eine tatsächliche Bedrohung dar. Anstatt von außen diszipliniert zu werden, sollte der Westen beginnen, Selbstdisziplin zu üben, wie es auch Psychotherapeuten ihren Patienten empfehlen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel erschien ursprünglich am 4. Oktober 2024 bei RIA Nowosti.
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