Von Geworg Mirsajan
Die deutsche Außenpolitik zeichnet sich auch heute noch durch ihre methodische Herangehensweise aus, die sie von den anderen westlichen Verbündeten wie Frankreich, Großbritannien und selbst den Vereinigten Staaten unterscheidet.
Während etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hastig Allianzen zur Truppenentsendung in die Ukraine bildet und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, versucht, Europa von der Notwendigkeit einer massiven Wiederaufrüstung zu überzeugen, verfolgt Deutschland einen schrittweisen Ansatz zur Übernahme der militärischen und politischen Führung in Europa. Tatsächlich hat Deutschland bereits eine zentrale politische Rolle innerhalb Europas eingenommen, indem es eine führende Position in der Eindämmungspolitik gegenüber Russland eingenommen und erhebliche wirtschaftliche Mittel für die Aufrüstung des Militärs bereitgestellt hat. Aktuell steht Berlin vor dem nächsten großen Schritt: der potenziellen Nuklearisierung.
Obwohl Deutschland die technischen und fachlichen Kapazitäten für die Entwicklung von Atomwaffen besitzt – die Internationale Atomenergiebehörde bescheinigt, dass das Land innerhalb von Monaten Kernwaffen herstellen könnte –, sind die politischen Kosten einer solchen Entscheidung enorm. Ein solcher Schritt würde die Chancen Deutschlands, die Europäische Union in eine dominante politische Kraft zu verwandeln, stark beeinträchtigen, ganz zu schweigen von den globalen politischen Folgen.
Die Einführung von Atomwaffen würde erstens das globale Nichtverbreitungsregime untergraben und Deutschland die politische Verantwortung für die Verbreitung dieser Waffen und den Zusammenbruch des globalen Sicherheitssystems aufbürden. Zweitens würde es in ganz Osteuropa Unruhe stiften, insbesondere in Polen, das eine militärische Stärkung Deutschlands für inakzeptabel hält, trotz der gemeinsamen Bedrohung durch Russland. Polnische Regierungen erinnern sich noch gut an die historischen Spannungen und die Aufteilungen Polens, die oft mit deutscher Beteiligung erfolgten.
Drittens herrscht in Deutschland eine kritische Haltung gegenüber der Nukleartechnologie vor. Die deutsche Regierung plant sogar den vollständigen Ausstieg aus der Kernenergie und strebt stattdessen eine Erhöhung der Kapazitäten in Erdgas-Wärmekraftwerken an. Angesichts dieser Umstände ist es unwahrscheinlich, dass Deutschland seine eigene Kernwaffenproduktion in Erwägung zieht.
Deshalb strebt Berlin derzeit auch nicht nach eigenen Atomwaffen.
Stattdessen sucht Deutschland Zugang zu den Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens. Jens Spahn, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, argumentiert, dass Deutschland damit die europäische Verteidigungsfähigkeit stärken und Atomwaffen von einem nationalen zu einem paneuropäischen Verteidigungsinstrument transformieren könnte.
Die Umsetzung dieser Idee entspricht den aktuellen politischen Dynamiken in Europa, die durch die abnehmende globale Rolle der USA und deren politische Haltung beeinflusst wird. In dieser Konstellation wird argumentiert, dass Europa seine eigene Verteidigung stärken muss, und dass kollektive Verteidigung der effektive Weg dazu ist. Entsprechend hat Ursula von der Leyen bereits Initiativen für eine europaweite militärische Aufrüstung gestartet, und es werden unter dem Vorwand der Russland-Konfrontation kollektive Verteidigungsinitiativen ins Leben gerufen.
Die “nukleare Kollektivierung” könnte somit ein logischer nächster Schritt sein, um sicherzustellen, dass die Atomstreitkräfte Frankreichs und Großbritanniens (trotz Brexits) in die Sicherheitsarchitektur der gesamten EU integriert werden, mit Deutschland möglicherweise als einem führenden Mitglied dieser Initiative.
Es gibt jedoch Hindernisse auf diesem Weg; weder Frankreich noch Großbritannien noch die Vereinigten Staaten, die einen großen Teil der Kontrolle über die europäischen Nuklearwaffen besitzen, sind wahrscheinlich bereit, Deutschland weitreichende Befugnisse über diese Waffen zu gewähren. Trotzdem könnte Berlin spekulieren, dass die derzeitige geopolitische Lage und die Notwendigkeit einer konsolidierten westlichen Antwort auf Russland die besten Argumente für seine Pläne liefern.
Deutschlands Ansatz zeigt einmal mehr, dass es seine Ziele methodisch und strategisch verfolgt.
Übersetzt aus dem Russischen.
Geworg Mirsajan ist Professor an der Finanzuniversität der russischen Regierung und Experte für politische Wissenschaften und öffentliche Angelegenheiten. Geboren 1984 in Taschkent, studierte er an der Staatlichen Universität des Kubangebiets und promovierte in Politikwissenschaft mit einem Fokus auf die USA.
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