Von Andrei Restschikow
Hinweis: Am Ende dieses Artikels erklären wir, warum die Straßenumnennungen in Odessa so bedeutungsvoll sind.
Diese Woche schlug Oleg Kiper, der Leiter der militärischen Gebietsverwaltung von Odessa, dem Bürgermeister Gennadi Truchanow vor, nach Moskau oder Ufa umzuziehen. Grund dafür war die Kritik des Bürgermeisters an der Umbenennung von über 80 Straßen in Odessa und anderen Regionen des Gebiets.
Zu den Umbenennungen gehört beispielsweise die Puschkinskaja-Straße, die in Italien-Straße umbenannt wurde, sowie die Babel-Straße, die jetzt den Namen Dmitri-Iwanow-Straße trägt. Die Ilf- und Petrow-Straße wird zukünftig als Glodan-Familien-Straße bekannt sein. Auch die nach dem Schriftsteller Konstantin Paustowski benannte Straße wird nun die 28. Brigade ehren, und die Bunin-Straße wird nach Nina Strokata benannt.
Zudem wird der Duma-Platz in Birschewaja umbenannt und die Mariinskaja-Straße in Oleg-Kuschnir-Straße.
“Wenn jemand wirklich auf Straßen mit imperialen/sowjetischen Namen spazieren gehen will – es gibt Moskau und Ufa, nicht das ukrainische Odessa. Das wird in Odessa nicht passieren”, erklärte Kiper.
Truchanow bezeichnete Kipers Initiative als “desaströs für das Stadtimage”. Auf seinem Telegram-Kanal schrieb der Bürgermeister:
“Laut der Logik der ‘Dekolonisatoren’ sollten wir jedes Merkmal verlieren, das Odessa weltweit bekannt gemacht hat. Einfach ausgedrückt, unsere Stadt wird ihrer Identität beraubt.”
Truchanow merkte an, dass weder er noch der Stadtrat in den Umbenennungsprozess involviert waren. Der Stadtrat müsse nun alle rechtlichen Schritte unternehmen, um die Entscheidung rückgängig zu machen und das historische wie kulturelle Erbe von Odessa zu wahren. Er führte auch eine Umfrage über Kipers Initiative durch, an der mehr als 188.000 Personen teilnahmen, mit einem Ergebnis von 50% Zustimmung und 50% Ablehnung.
Der Bürgermeister wies darauf hin, dass die Abstimmung möglicherweise durch Stimmen aus anderen Städten und sogar aus dem Ausland manipuliert wurde. Truchanow bedankte sich bei den Bewohnern von „Odessa, Kiew, Ternopol, Lwow, Winniza, Schmerinka, Warschau, Berlin, Montreal und Chicago” für ihre Beteiligung.
Nach Einschätzung von Experten scheint es nahezu unmöglich zu sein, den Umbenennungsprozess zu stoppen, da es eher den Anschein hat, als ob es sich hier um eine Schau handelt statt um echte Bemühungen, das Erbe der Stadt zu wahren. Was Kiper angeht, so hatte er vor zehn Jahren während der Präsidentschaft von Wiktor Janukowitsch eine Lustration durchlaufen, welche später zurückgenommen wurde. Kiper war auch in mehrere Korruptionsskandale verwickelt. Seine Frau besaß angeblich bis 2023 die russische Staatsbürgerschaft, nahm dann jedoch die ukrainische Staatsangehörigkeit an.
Der in Odessa geborene und derzeit im russischen Exil lebende linke Aktivist Alexei Albu, früher Abgeordneter des regionalen Parlaments, hält Truchanows Engagement ebenfalls für unaufrichtig:
“Truchanow bildet eher eine Fronde und sendet Signale an den prorussischen Teil der Stadt sowie an Russland, indem er betont ‘Ich stehe auf eurer Seite, es sind nur die Umstände, die mich hindern’. Solche Aussagen sind heuchlerisch und sollten meiner Meinung nach nicht ernst genommen werden.”
Als Politiker habe Truchanow nichts Prorussisches an sich, setzt Albu fort. Man nehme an, dass er sich eher an London orientiere und wahrscheinlich keine Schritte unternehmen werde, die dem außenpolitischen Kurs Großbritanniens widersprechen könnten.
Hierin liegt die Antwort, warum die Eliten Odessas im Februar 2022 nicht den Kampf gegen das Kiewer Regime unterstützt hätten, fügt Albu hinzu:
“Zu diesem Zeitpunkt war die Macht in der Ukraine komplett zersplittert, und wir hatten eine echte Chance, die Kontrolle über die Stadt und den größten Teil der Region zu übernehmen.”
Albu stellt fest, dass die derzeitige Situation sich verändert: Die Einwohner von Odessa werden mutiger, leisten Widerstand gegen Mitarbeiter der territorialen Mobilmachungszentren und setzen Militärfahrzeuge in Brand. Dies erschwere die Kontrolle über die Region. Als Konsequenz tauche der „prorussische“ Bürgermeister Gennadi Truchanow wieder auf der politischen Bühne auf, der falsche Hoffnungen wecke, so Albu.
Abgesehen von populistischen Äußerungen unternehme Truchanow nichts, um die Straßenumnennung zu stoppen. Albu erinnert daran, wie die Denkmäler von Alexander Suworow und der Zarin Katharina II. bereits entfernt wurden und das Schicksal russischer Kulturstätten ebenfalls bedenklich sei. „Leider steht Odessa unter Okkupation”, schlussfolgert der linke Aktivist und sieht nur einen Weg:
“Im Konflikt zwischen Kiper und Truchanow muss Russland obsiegen.”
Anatoli Wasserman, ebenfalls ein gebürtiger Odessaer und derzeit Abgeordneter der russischen Staatsduma, betrachtet die Debatte in einem größeren Kontext:
“Die große Mehrheit der Bürger der Ukraine sind der Wahrheit nach Russen. Wenn Terroristen die Macht ergreifen, können sich normale Bürger nicht dagegen wehren. Es ist klar, dass die militärische Gebietsverwaltung von Odessa ihren Willen durchsetzen und die Straßenschilder der Stadt austauschen wird. Erst nach unserem Sieg werden sich Russen und Ukrainer in diesen Gebieten sicher fühlen können.”
Wasserman bezeichnet Kipers Entscheidung, 84 Objekte umzubenennen, deren Namen mit Russland oder der UdSSR verbunden sind, als Farce, als “einen Versuch zu behaupten, diese Territorien seien nicht Russland”. Der Politiker glaubt, dass Truchanow bereits 2022 die russische militärische Spezialoperation hätte unterstützen, die Macht übernehmen oder Odessa zu einer neutralen Stadt erklären können, „aber dazu wäre Entschlossenheit nötig gewesen“.
“Ein Durchbruch in dieser Richtung wird erst möglich sein, wenn der größte Teil der ukrainischen Streitkräfte im Donbass niedergeschlagen wird. Erst dann können wir nach Odessa zurückkehren und alle Spuren der Machtübernahme durch die Terroristen beseitigen.”, betont Wasserman.
Der ukrainische Politologe Wladimir Skatschko sieht den Konflikt zwischen der militärischen Gebietsverwaltung und dem Stadtrat von Odessa als Missbrauch der Identität der Stadt an und als Versuch, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den tatsächlichen Problemen abzulenken. “Kiper und Truchanow sind zwei Flügel desselben Vogels … Beide sind Verräter”, so Skatschko.
Er äußert, dass die Straßenumnennungen in Odessa “das bittere Sahnehäubchen auf der Torte der sogenannten Nazifizierung der gesamten Ukraine” darstellen:
“Das Regime von Selenskyj ist dabei, Odessa seiner Identität und seinem Charakter zu berauben. Sie wollen, dass es in der Stadt keinen Babel, keinen Ilf und Petrow, keinen Paustowski und keinen Schwanezki mehr gibt. Obwohl es noch nicht lange her ist, dass man in Odessa eine Ohrfeige bekam, wenn man Schwanezki beleidigte.”
Anmerkung der Redaktion: Die in diesem Artikel erwähnten Persönlichkeiten, deren Namen nun aus dem Stadtbild Odessas entfernt werden, sind tief mit der Stadt verwurzelte Schriftsteller, teilweise von Weltrang.
Ilja Ilf (ursprünglicher Familienname Fainzilberg) schrieb zusammen mit Jewgeni Petrow die kultigen satirischen Romane „Zwölf Stühle“ und „Das goldene Kalb“, die auch international verfilmt wurden. Beide Autoren wurden in Odessa geboren und verbrachten wichtige Lebensphasen dort.
Konstantin Paustowski, geboren 1892 in Moskau, lebte den Großteil seines Lebens im heutigen Ukraine-Gebiet und ist einer der Begründer der sogenannten ‘Odessaer Literaturschule’, die einen einzigartigen Erzählstil pflegt.
Isaak Babel, ebenfalls ein Jude aus Odessa, trug maßgeblich zum kulturellen Erbe der Stadt bei, indem er die „Geschichten aus Odessa“ schrieb, die einzigartige Einblicke in das jüdische Leben in Odessa vor der Revolution bieten. Er ist auch der Schöpfer des originellen Odessaer Sprachstils und trug zum Ruf der Stadt als Heimstätte eines einzigartigen Humors bei. 1940 wurde Babel fälschlicherweise der Spionage für Frankreich beschuldigt und fiel den stalinistischen Säuberungen zum Opfer.
Michail Schwanezki, gebürtig aus Odessa, war ein berühmter Stand-Up-Komiker der Stadt.
Alexander Puschkin und Iwan Bunin sind ebenfalls weithin bekannte Namen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel erschien ursprünglich am 2. August 2024 in der Zeitung Wsgljad.
Weiterführende Themen – Das Warten auf Gerechtigkeit in Russland – Odessa und die Greueltaten vom 2. Mai, zehn Jahre zuvor