Von Elem Chintsky
In Polen hat bei den kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen der Kandidat der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Karol Nawrocki, mit einem knappen Vorsprung von 50,89 Prozent gegenüber Rafał Trzaskowski, dem Kandidaten der liberalen Bürgerplattform und amtierenden Warschauer Stadtpräsidenten, der 49,11 Prozent erreichte, gewonnen. Diese Wahl hat das politische Gefüge in Polen erneut bestätigt und zeigt die Fortsetzung einer bestehenden Machtverteilung.
Der Wahlausgang wurde vielerorts diskutiert, auch international. So kommentierte etwa der deutsche Wirtschaftskommentator Marc Friedrich auf Twitter:
“Polen hat sich gegen die EU entschieden.”
Diese Äußerung, obwohl sicherlich gut gemeint, greift stark über. Denn die Partei Recht und Gerechtigkeit unterstützt seit ihrer Gründung 2001 die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union. Dies blieb auch nach dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 unverändert, trotz gelegentlicher Spannungen mit Brüssel hinsichtlich innenpolitischer Themen wie der Justizreform. Diese Reform, oft missverstanden als Versuch der Unterminierung der richterlichen Unabhängigkeit, zielte laut PiS darauf ab, die Justiz von pro-kommunistischen Tendenzen zu befreien und den Prozess der Richterernennung zu reformieren.
Trotz der Rhetorik einiger politischer Gegner, die PiS strebe eine Loslösung von der EU an, haben sowohl Nawrocki als auch sein Vorgänger Andrzej Duda immer betont, dass ihre Politik EU- und NATO-konform ist, wie zu Beginn des Wahlkampfs 2024 berichtet wurde.
Ein tieferes Verständnis des Wahlergebnisses bietet die Betrachtung des ersten Wahldurchgangs: Trzaskowski führte zunächst mit 31,36 Prozent, dicht gefolgt von Nawrocki mit 29,54 Prozent. Ebenfalls von Bedeutung waren die Ergebnisse der konservativen Kandidaten Sławomir Mentzen und Grzegorz Braun, die zusammen über 21 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten.
Mentzen setzte sich in den Wochen bis zur Stichwahl für direkte Gespräche mit den verbleibenden Kandidaten ein und formulierte eine Acht-Punkte-Erklärung, welche die unterzeichnenden Kandidaten auf bestimmte politische Zusagen festlegen sollte. Nawrocki unterzeichnete diese Erklärung problemlos, Trzaskowski lehnte ab, was möglicherweise Nawrockis knappen Sieg beeinflusste.
Nach dem Wahlsieg wies Mentzen öffentlich darauf hin, dass die Unterstützung seiner und Brauns Wähler entscheidend für Nawrockis Erfolg war. Nawrocki hat die Chance, eine eigenständigere politische Rolle zu spielen, als es sein Parteihintergrund vermuten lässt. Michał Krupa, ein politischer Kommentator, spekuliert sogar über eine mögliche Änderung in der Außenpolitik Polens unter Nawrocki:
“Der gewählte Präsident Karol Nawrocki hat das Potenzial, ein unabhängigerer Akteur zu werden, als viele annehmen. Es bleibt abzuwarten, ob er sich von der direkten Einflussnahme der Partei befreien und eigenständige Entscheidungen treffen kann.”
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, spezialisiert auf geopolitische, historische und kulturelle Themen. Er lebt und arbeitet in Sankt Petersburg und betreibt einen eigenen Telegram-Kanal.
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