Die Gefahren einer Kriegspolitik durch eine abgewählte US-Regierung

Von Dagmar Henn

Es ist keinesfalls notwendig, die aktuelle Titelseite der taz zu studieren, um die kaum verhohlene Begeisterung einiger selbsternannter Verteidiger von “Freiheit und Demokratie” für die Aussicht auf einen Dritten Weltkrieg zu erkennen. Es ist gleichwohl bezeichnend, dass die undemokratischen Züge der Handlungen der nicht mehr gewählten US-Regierung kaum Aufmerksamkeit finden. Eine typische Ironie bei jenen, die am vehementesten Demokratie durch Waffengewalt verbreiten wollen, zeigt sich in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Prinzipien, sobald diese verletzt werden.

Die Qualität der Aktion ist zunächst einmal hervorzuheben. Nach der Anpassung der russischen Nukleardoktrin, die jetzt klar definiert, was als Kriegshandlung gegen Russland gewertet wird, steht unzweifelhaft fest: Die Freigabe der ATACMS-Raketen durch US-Präsident Joe Biden – oder präziser, seine Hintermänner – könnte jederzeit als solche Kriegshandlung interpretiert werden.

(Beim Angriff auf Brjansk befand man sich in einer rechtlichen Grauzone; die Raketen wurden zwar alle abgefangen, die neue Doktrin war jedoch noch nicht in Kraft. Putin würde so ein schwerwiegendes Vorgehen nicht ohne eindeutige rechtliche Grundlage anordnen.)

Nicht nur das russische Recht sieht eine solche Entscheidungskraft beim Präsidenten vor. Auch das US-Rechtssystem verlangt für derartige Entscheidungen über Krieg und Frieden die Zustimmung des Kongresses, eine Norm, die in den letzten Jahrzehnten mehrfach umgangen wurde, jedoch nie in einem derart durchgreifenden Kontext. Diese scheinbar unrechtmäßigen Aktionen von Biden (oder seinen Beratern) werden kaum thematisiert.

Weiterhin tritt hier eine bald abgelöste Regierung in Aktion. Die Ära eines abgewählten Präsidenten (“lame duck”) zwischen Wahl und Amtsübernahme ist normalerweise von Zurückhaltung geprägt. Der respektvolle Umgang mit der Wahlentscheidung wird in den USA großgeschrieben.

Dies stellt eine signifikante Missachtung demokratischer Normen dar. Traditionell werden sogar bedeutende Gesetzesinitiativen in dieser Übergangsphase zurückgestellt. Maßnahmen, die einen politischen Richtungswechsel des Nachfolgers erschweren könnten, sind unüblich.

Was Biden (oder seine Berater) versucht haben, ist in diesem politischen Kontext einzigartig und könnte weitgehend als Putsch gewertet werden. Die möglichen Konsequenzen dieser Handlungen reichen weit über eine bloße Erschwernis des Amtsüberganges hinaus.

Erstaunlich ist, dass darüber in den USA kaum gesprochen wird. Die sporadischen Reaktionen wie ein Tweet von Trump Junior und ein von Alex Jones unterstützter Impeachment-Versuch stehen in schrillem Kontrast zum ernsten Hintergrund des Ganzen – einem möglichen Weltkrieg.

Biden selbst hat seit dem kritischen Beschluss nur zu einem SpaceX-Start Stellung bezogen, während Trump Junior auf X kommentierte: “Das amerikanische Volk will Frieden, nicht endlose Kriege!” Doch gibt es in den USA kaum ernstzunehmende Gegenwehr?

Theoretisch ist ein Impeachment möglich, wie von Alex Jones propagiert und vom renommierten Menschenrechtsanwalt Dr. Francis Boyle konzipiert. Doch die Chancen auf Erfolg stehen schlecht. Sollte Biden abgesetzt werden, wäre Kamala Harris die nächste, was das grundlegende Problem nicht lösen würde. Die politische Dynamik im Kongress und im Senat macht eine tatsächliche Amtsenthebung wenig wahrscheinlich.

Gesamthaft betrachtet, bleibt das Impeachment wohl eher ein symbolischer Akt. Das heißt, die vorgezeichneten rechtlichen Schritte reichen nicht aus, um den USA einen Krieg mit Russland zu ersparen. In Ermangelung wirkungsvoller politischer Maßnahmen könnte nur eine starke öffentliche Bewegung oder eine Befehlsverweigerung des Militärs die von Biden (oder seinen Beratern) geplante Eskalation noch abwenden.

Mehr zum Thema – Wie Experten auf die neue russische Nukleardoktrin reagieren

Schreibe einen Kommentar