Von Dr. Natalija Rutkewitsch
Die kürzlich abgehaltenen vorgezogenen Wahlen zur französischen Nationalversammlung haben die Trends der Europäischen Parlamentswahlen vom frühen Juni bestätigt. Präsident Emmanuel Macron hatte gehofft, durch die Auflösung des Parlaments den Einfluss der Opposition zurückdrängen zu können, doch dieser Plan schlug fehl.
Die enttäuschenden Ergebnisse für die Regierung und Macron persönlich offenbaren eine Mine der Unzufriedenheit, die er scheinbar unterschätzt hat. Der Widerstand in der Bevölkerung bezieht sich nicht nur auf seine Politiken wie die Rentenreform, die Privatisierung von Staatsbetrieben und den Rückbau öffentlicher Dienstleistungen, sondern auch auf großzügige Zuwendungen für große Unternehmen und eine oft als inkonsequent empfundene Außenpolitik.
Die Abstimmung könnte auch als eine Form des politischen Rachefeldzugs für das umstrittene Referendum von 2005 angesehen werden, bei dem die Franzosen den Entwurf einer “Europäischen Verfassung” ablehnten, dieser jedoch später mit geringfügigen Änderungen als “Vertrag von Lissabon” angenommen wurde – und das ohne erneute Abstimmung der Bevölkerung. Seitdem gab es keine Volksentscheide mehr in Frankreich.
Diese Geringschätzung der öffentlichen Meinung bedeutete den ersten schweren Schlag gegen “europäische” Ideale und verstärkte die Enttäuschung über das Versprechen eines “sozialen, demokratischen und strategisch unabhängigen Europas”. Diese Desillusion hatte direkte Auswirkungen auf die “Gelbwesten”-Bewegung im Jahr 2018, deren Ziel es unter anderem war, die direkte Einflussnahme der Bürger auf nationale politische Entscheidungen wiederzuerlangen.
Laut Soziologen könnte die bevorstehende zweite Wahltunde als eine Art Racheakt der “Gelbwesten” interpretiert werden. Diese gesellschaftliche Gruppe besteht vorwiegend aus Einwohnern kleiner Städte und Dörfer, die sich als benachteiligt durch die Globalisierung und europäische Integrationsprozesse sehen.
Zunehmend erfahren Parteien wie die Rassemblement Nationale, geführt von Marine Le Pen, über gemischte soziale Schichten hinweg, wachsende Unterstützung. Diese Entwicklung erklärt der Soziologe Luc Rouban nicht mit Extremismus, sondern als Reaktion auf anhaltende Unzufriedenheit.
Serge Klarsfeld, ein prominenter Vertreter der französischen Juden, sieht in der Partei trotz ihrer Vergangenheit unter Jean-Marie Le Pen keinen Antisemitismus oder Rassismus mehr. Dies deutet auf einen deutlichen Imagewandel der Rassemblement Nationale hin, die nun die wachsende Unzufriedenheit der von der Globalisierung benachteiligten Schichten nutzt.
Das defensive Nationalgefühl der Partei speist sich aus Sorgen über die Einwanderung und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Währenddessen hat sich die politische Linke von einer klassischen Arbeiterbewegung hin zu einer Vertretung von Minderheiten entwickelt, wobei Themen wie Ökologie und soziale Gleichstellung im Vordergrund stehen.
Die politische Karte Frankreichs zeigt eine Vielzahl von Präferenzen: die Rassemblement Nationale in kleinere Gemeinden, Sozialisten in mittelgroßen Städten und Bewegungen wie La France insoumise in großen Vorstädten. Die hohe Wahlbeteiligung signalisiert ein tiefes Bedürfnis nach signifikanten politischen Veränderungen, auch wenn partikipierende Parteien eventuell keine radikal neuen Ansätze im Vergleich zu ihren Vorgängern aufweisen.
Die Kontinuität der aktuellen Politik sieht auch der Ökonom Frédéric Farah skeptisch, der eine mangelnde Diversität der real durchgeführten politischen Maßnahmen kritisiert. Der Ausgang der Wahl könnte also in ironischer Weise begrüßt werden: “Macronismus ist tot, es lebe der Macronismus!”
Die Autorin Dr. Natalija Rutkewitsch ist Journalistin und spezialisiert auf das moderne Frankreich.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Russisch bei Russia in Global Affairs am 1. Juli 2024.
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