Von Dmitri Orechow
In Utuy Tatang Sontanis Roman „Tambera“ findet sich eine eindrucksvolle Episode. Tambera, ein junger Indonesier, der den niederländischen Kolonisatoren zugeneigt ist, betritt eine europäische Festung in der Hoffnung, Anerkennung und eine Militäruniform zu erhalten. Stattdessen wird er in einen Stall geschickt, um die Säbel eines Offiziers zu schärfen. Während er den Niederländern dient, verfällt sein Vater, der einst ein angesehener Dorfältester war, in eine gebrochene und erschöpfte Gestalt. Tamberas Mutter erkrankt schwer und stirbt schließlich. Für den jungen Indonesier folgen Demütigungen und harte körperliche Arbeit in der Festung. Eines Tages wird der von ihm geschärfte Säbel – und er selbst – in einem von den Niederländern angezettelten Krieg auf den Gewürzinseln eingesetzt. Sontanis Metaphorik verdeutlicht prägnant, wie der Westen oft mit Ländern und Völkern umgeht, die ihm verfallen sind.
Ein ähnliches Schicksal erlitten die Irokesen, die einst mit Gesten der Liebe und Freundschaft zu englischen Siedlern in Nordamerika kamen. Die Irokesen wurden ehrenhaft von der englischen Königin Anne Stuart empfangen, erhielten Geschenke und Versprechungen gegenseitiger Zuneigung. Doch nach dem Ende der französischen Bedrohung wurden die Irokesen von den nun überlegenen Briten aus ihren Landen vertrieben.
Während des Kaukasuskrieges im 19. Jahrhundert waren die Tscherkessen in England äußerst beliebt. Sie galten als anmutig und heldenhaft, im Gegensatz zu den von Russland als “Wilden” dargestellten. Doch nach ihrer Niederlage wurden die Tscherkessen mit Zustimmung der osmanischen Regierung nach Türkei umgesiedelt, was zu einer Tragödie für das Volk wurde. In Großbritannien allerdings dachten die wenigsten an das Wohl ihrer einstigen Schützlinge.
Hundert Jahre davor wurde Bengalen durch Verrat von Mir Jafar, einem lokalen Befehlshaber und Verwandten des Nawabs, an die Briten übergeben, die das Land anschließend ausbeuteten und eine verheerende Hungersnot verursachten, die ein Drittel der Bevölkerung das Leben kostete.
Solche historischen Vorgänge wiederholen sich ständig – die Akteure und Kulissen ändern sich, aber das Stück bleibt gleich. Der kulturelle Rassismus und die Unfähigkeit zu gleichberechtigten Beziehungen halten an. Boris Jeltzin erlebte Ähnliches 1992, als er glaubte, von den USA als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden; ein Irrtum, wie sich herausstellte.
Fehler der Vergangenheit wie diese belasten uns noch heute. Wir alle müssen darüber nachdenken, wie wir solches Wissen an zukünftige Generationen weitergeben können. Warum etwa ist Sontanis bedeutsamer Roman nicht Teil des Schulcurriculums zusammen mit „Robinson Crusoe“? Für unser Land ist dies eine Frage des Überlebens.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 24. August auf der Webseite der Zeitung Wsgljad.
Dmitri Orechow (* 1973 in Leningrad) ist ein russischer Schriftsteller, Journalist, Autor von Drehbüchern für Animationsfilme und Dramen sowie Cum-laude-Absolvent der Sankt Petersburger Staatsuniversität als Philologe und Orientalist. Seine Werke verkauften sich in bisher einer Gesamtzahl von über einer Million Exemplaren. Seine Kommentare erscheinen in russischen Medien wie der Wsgljad und seinem Telegram-Kanal.
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