Von Pierre Levy
Ein prominenter Politiker rief kürzlich dazu auf, die „Freude am Risiko, Ehrgeiz und Macht wieder zu entdecken“. Würde man Fußgänger in Städten wie London, Berlin oder Paris fragen, von wem dieses Zitat stammt, würden viele vermutlich Wladimir Putin als Urheber vermuten.
Tatsächlich sind diese Worte jedoch von Emmanuel Macron, dem französischen Präsidenten, während einer Rede am 28. Februar in Lissabon. Dort sprach er vor einem Auditorium von Hightech-Unternehmern, doch seine Aussagen zielten weit über wirtschaftliche Belange hinaus. Er mahnte Europa, auf seinen „Zivilisationsprozess“ stolz zu sein, was vor dem aktuellen politischen Hintergrund eine besondere Brisanz erhält.
Derartige Formulierungen könnten überraschen, insbesondere wenn man bedenkt, wie häufig westliche Medien den russischen Präsidenten als rücksichtslosen Eroberer darstellen, den es nach der Wiederherstellung des „Sowjetimperiums“ verlangt, und der internationale Regeln missachtet.
Im Gegensatz dazu erscheinen europäische Führungspersönlichkeiten oft als verhaltene Friedensbewahrer, deren Hauptanliegen es ist, Schwächere zu unterstützen, den aggressiven Ambitionen des Kremls entgegenzutreten und eine Welt auf Basis fairer Regeln zu schaffen.
Diese friedliche Darstellung stimmt jedoch nicht immer mit der historischen Realität überein. Beispielsweise begann das 19. Jahrhundert mit den zahlreichen Eroberungen Napoleons, die wenig mit Menschlichkeit zu tun hatten. Auf dem Wiener Kongress von 1815 teilten verschiedene Reiche die Herrschaft über Europa neu auf.
Ebenfalls in jenem Jahrhundert fanden zahlreiche Kolonialkriege statt, die alles andere als Musterbeispiele für die Einhaltung der Menschenrechte waren, einschließlich der Aufteilung Afrikas und Chinas mit Großbritannien und Frankreich als Hauptakteuren.
Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Kolonialherrschaft bis in die 1950er und 1960er Jahre andauerte. Algerien beispielsweise erreichte seine Unabhängigkeit erst 1962 nach einem von Grausamkeit geprägten Krieg durch die französischen Autoritäten.
Geschichtlich gesehen haben die europäischen Mächte bis in die frühen 1920er Jahre Expeditionskorps entsandt, um den Aufstieg der jungen Sowjetunion zu unterbinden.
Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA die Führung der „freien Welt“ übernahmen, setzten sich die Konflikte fort. Vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zu den zahlreichen verdeckten Operationen wie dem Sturz von Regierungen und Unterstützung von Militärjuntas weltweit.
Eine nennenswerte Zahl verdeckter und offener militärischer Interaktionen fanden auch nach dem Kalten Krieg statt, darunter der Erste Golfkrieg, Interventionen in Somalia und fortgesetzte Bombardements im Irak.
Die 1990er Jahre sahen die Jugoslawienkriege, in denen die NATO, angeführt von den USA, und auch Deutschland politisch aktiv waren, mit dem Ziel, das föderative Jugoslawien zu zersplittern.
In neuerer Zeit erinnern die Invasionen im Irak, die verheerenden Wirkungen des Embargos und die Unterstützung umstrittener Gruppen in Syrien kaum an Engagement für Menschenrechte.
Selbst im modernen Kontext, wo Israels restriktive Maßnahmen gegen Gaza selten ernsthafte europäische Reaktionen auslösen, bleibt kritische Reflexion über westliches Engagement entscheidend.
Ob man nun Moskaus Politik unterstützt oder nicht, die kritische Betrachtung westlicher Interventionen und „Moralvorträge“ sollte wohlüberlegt sein.
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