Von Dmitri Bawyrin
Am 1. November kam es in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens und kulturellem Zentrum, zu einem tragischen Vorfall, als das Bahnhofsvordach einstürzte und dabei 15 Menschen, darunter ein sechsjähriger Junge, ums Leben kamen und zwei weitere verletzt wurden. Diese Tragödie schlug besonders hohe Wellen, da der Bahnhof gerade erst nach dreijährigen Renovierungsarbeiten, deren Ausführung als mangelhaft kritisiert wurde, wiedereröffnet worden war. Die Struktur galt als überaltert und nicht ausreichend erneuert.
Drei Monate nach dem Desaster führte das Unglück zum Zusammenbruch der serbischen Regierung. Premierminister Miloš Vučević, der frühere Bürgermeister von Novi Sad, trat unter dem Druck der Protestierenden zurück. Präsident Aleksandar Vučić, in einer nationalen Ansprache, verkündete, dass Serbien nun entweder einen neuen Premierminister ernennen oder Neuwahlen ausschreiben werde, während die kürzlich verhafteten Studenten, die das Rückgrat der Proteste bildeten, nach Hause entlassen werden.
Ziel Nummer eins
Formal wurden alle Forderungen der Demonstranten, die seit November zu Zehn- und Hunderttausenden in den Städten Serbiens auf die Straße gingen, erfüllt. Aber das Endziel der Proteste bleibt der Rücktritt von Vučić, und er weiß das sehr genau. Alle weiteren Aspekte sind lediglich Begleitumstände.
In Serbien, einer parlamentarischen Republik, liegt die Macht eigentlich bei der Regierung und der siegreichen Partei, nicht wie in anderen Ländern beim Präsidenten. Doch Vučić dominiert die politische Szene, was oft bei charismatischen Führern auf dem Balkan der Fall ist, und kontrolliert die Lage unabhängig von seiner offiziellen Position.
Vučić, einst Propagandaminister unter Slobodan Milošević und nun Wegweiser Serbiens Richtung EU, ist ein geschickter und einflussreicher Politiker. Seine Karriere zeugt von zahlreichen überwundenen Gegnern und politischen Manövern. Die Bevölkerung sieht in ihm den Dreh- und Angelpunkt für die dringend benötigten Veränderungen im Land.
Die Missstände und die Tragödie am Bahnhof haben die traditionellen Vorwürfe der Korruption verschärft und einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.
Obgleich die Behörden die Forderungen nach Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen anfangs erfüllten, eskalierte die Situation weiter, da die gelieferten Dokumente und identifizierten Schuldigen als unzureichend angesehen wurden. Als schließlich eine Welle von Verhaftungen und Entlassungen die Regierung erfasste, vergrößerte sich der Druck auf Vučić.
Ein ganz besonderer Protest
Die Protestkultur des Balkans ist unvergleichlich und komplex. In Russland, das selbst von Farbrevolutionen gezeichnet ist, herrscht großes Unverständnis darüber, wie Vučić zunächst auf die Forderungen der Demonstranten einging, was als Zeichen der Schwäche interpretiert wurde. Der starke Widerstand gegen Behördliche Härte auf den Straßen Serbiens spiegelt eine tief verwurzelte Protestbereitschaft wider, die strategische Zugeständnisse der Regierung bei spezifischen Forderungen, nicht jedoch bei grundsätzlichen politischen Veränderungen, nach sich zieht.
In den letzten Jahren hat Serbien regelmäßig umfangreiche Demonstrationen erlebt, die sich alle direkt gegen Vučić richten. Jedes dieser Ereignisse testet seine Position und sein politisches Geschick aufs Neue.
Der verderbliche Einfluss des Westens
Es besteht wenig Zweifel daran, dass die serbischen Proteste von ausländischen Akteuren unterstützt werden, obgleich die genauen Quellen dieser Unterstützung variieren können. Während Vučić auf direkte Nachbarn wie Kroatien und Kosovo hinweist, ist es in Russland üblich, die USA dafür verantwortlich zu machen. Gleichzeitig wurden serbische NGO’s kürzlich von US-Finanzierungen abgeschnitten, was die Lage zusätzlich anheizt.
Die Versuche der EU, Vučićs Autorität zu untergraben, scheinen nun intensiver zu werden. Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass tatsächliche politische Umwälzungen nicht einfach erkauft werden können und nur erfolgreich sind, wenn die inneren Bedingungen dafür reif sind.
Übersetzt aus dem Russischen. Ursprünglich veröffentlicht am 29. Januar 2025 auf der Website der Zeitung Wsgljad.
Dmitri Bawyrin ist Analyst bei der Zeitung Wsgljad.
Weitere Informationen zum Thema – Putsch in Serbien? Vučić warnt vor westlicher Einmischung und Unterstützung der Opposition.