Von Tom J. Wellbrock
Fiktion:
Hakim, 16 Jahre alt, steht auf einer staubigen Straße im Gaza-Streifen. Er blickt sich um. Dort, wo einst das Haus seiner Eltern gestanden hatte, liegen jetzt nur noch Ruinen. Instinktiv sucht er nach der Hand seiner Mutter, doch sie ist nicht mehr da. Bei einem israelischen Angriff wurden seine Eltern getötet, der Arm seines Vaters neben ihm in den Staub gefallen. Hakim war gerade heimgekehrt, als die Bombe einschlug. Auch seine Geschwister überlebten nicht.
Nun steht er dort, sein Gesicht von Schmutz bedeckt, seine Augen leer. Seit dem Verlust seiner Familie hat Hakim viel geweint. Jetzt aber ist Schluss. In ihm keimt ein Plan: Rache. Er schwört, so viele Israelis wie möglich zu töten. Sie haben ihm alles genommen; sein eigenes Leben zählt nicht mehr. Nichts hält ihn mehr auf dieser Welt. Doch er glaubt an eine Belohnung nach dem Tod, an ein besseres Dasein. Doch bevor es soweit ist, gilt es, seine Mission zu erfüllen. Hakim ist entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen.
Realität:
Diese fiktionale Szene ist erschütternd realitätsnah. Michael Lüders beschreibt in seinem Video “Freiheit? Frieden? Von Kriegen und Kriegsgewinnern” die Entstehung von Hass und Verzweiflung in jungen Menschen, die alles verloren haben. Im Gaza-Streifen entstehen durch Krieg und Verlust zahlreiche verletzte Seelen, die später als “Terroristen” gebrandmarkt werden – weil sie töten.
Man mag sie zwangsläufig so nennen, wenn ihre Taten sonst schwer einzuordnen sind. Doch der Weg dahin wird maßgeblich von Israel geebnet. Das erklärte Ziel, die Hamas zu vernichten, entpuppt sich als Illusion, die Hamas wird eher gestärkt. Die politischen, moralischen und ethischen Debatten über die Frage, wie viel Schuld Israel an vergangenen und zukünftigen Terroranschlägen trägt, resultieren in Schätzungen zwischen “keine” und “alle”.
Unbestreitbar jedoch ist fast jeder zukünftige Anschlag auf Israel, ausgeführt von Palästinensern, eine direkte Folge der Politik der israelischen Regierung. Ob Netanjahu aus politischem Kalkül or aus einem Verblendungszustand heraus handelt, sei dahingestellt. Er und seine Verbündeten tragen die Verantwortung für die zivilen Opfer in Gaza und künftige Opfer in Israel.
Das alles wird unter dem Vorwand der “Verteidigung” realisiert, ähnlich der aktuellen Situation in Deutschland, wo unter gleichem Vorzeichen Langstreckenraketen stationiert werden. Israel agiert wie ein Mini-NATO, jedoch nicht weniger aggressiv oder gefährlich.
Der Rechts- und Politikwissenschaftler Norman Paech versteht unter Verteidigung etwas anderes, wie er erklärt:
“Bei einer langandauernden Besatzung wie in Palästina durch Israel ergibt sich das Recht zum Widerstand aus dem Selbstbestimmungsrecht. Das schließt nicht nur den gewaltfreien, sondern auch den bewaffneten Widerstand mit ein. Auch wenn das bestritten wird, ergibt sich dies aus dem Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta, gerade weil die israelische Besatzung aufgrund ihrer Langfristigkeit und der begleitenden schweren Kriegsverbrechen illegal ist.”
Die Argumente sind vielseitig, aber sie illustrieren die Folgen von Israels Gewaltbereitschaft und dem Handeln der NATO.
Die Lüge der Selbstverteidigung
Israels Aktionen bleiben nicht unbeantwortet, ähnlich wie die Eskalationspolitik der NATO Konsequenzen haben wird. Die Diskussionen über “Abschreckungslücken” scheinen defensiv, sind jedoch das genaue Gegenteil. Die Argumentation erinnert hingehend an die Rechtfertigung Hitlers für seinen Präventivkrieg gegen die UdSSR, unterstellt, einen bevorstehenden Angriff der Sowjets abzuwehren – eine Bedrohung, die real nicht existierte.
Die sicherheitspolitischen Maßnahmen Deutschlands, die auf Abwehr ausgerichtet zu sein scheinen, und die Reaktion Russlands darauf, deuten auf eine angespannte Zukunftsprognose hin. Es geht nicht darum, ob Russland angreift, sondern dass es sich auf mögliche Konflikte vorbereitet.
Die fatale Selbstsicherheit, aus der heraus Hitler handelte, zieht sich bis heute durch die Politik mehrerer Nationen und birgt unabsehbare Risiken. Die Geschichte zeigt, dass solche Fehleinschätzungen katastrophale Folgen haben können.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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