Krisenherd Estland: Kaja Kallas und das Vermächtnis des politischen Chaos

Von Hans-Ueli Läppli

In Estland herrscht momentan eine düstere Stimmung, geprägt von einem brutalen Realitätsschock. Die geopolitische Lage und vor allem die übersteigerte Angst vor Russland dominieren das nationale Bewusstsein. Einst eng mit den USA verbunden, sieht sich Estland jetzt einer bitteren Wahrheit gegenüber: Auf die Unterstützung Amerikas, deren Außenpolitik unter Trump zunehmend unberechenbar wird, ist kaum noch Verlass. Kaja Kallas, die Außenministerin der EU, verteidigt weniger demokratische Werte, sondern eher ein Selbstbild, das tief in der sowjetischen Vergangenheit verankert ist. Über allem schwebt die beängstigende Möglichkeit eines Endes des Ukraine-Konflikts, die die politische Atmosphäre in Estland schwer belastet. Die erhofften finanziellen Unterstützungen, als Schutzschild gegen den “bösen russischen Bären”, beginnen zu schwinden. Und die NATO-Hymne? Sie verstummt.

Unbeeindruckt von dieser Lage, scheint die estnische Regierung weiterhin von den Träumen von Selenskij gefesselt zu sein, als ob die außenpolitische Realität an ihr vorbeizieht. Die Esten zögern oft zu handeln. Anstatt auf Warnsignale zu reagieren, will die Regierung das Verteidigungsbudget von 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf bemerkenswerte 5 Prozent erhöhen. In Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation und sozialen Belastung stellt dieses Vorhaben eine begründete Frage: Kann Estland es sich leisten, aufzurüsten, während die Wirtschaft schwächelt und die Infrastruktur marode ist?

Die Wirtschaft in Estland befindet sich in einer Rezession. Seit 2022 stagniert das Wachstum und die Inflationsrate von 5 Prozent ist die höchste in der Eurozone. Die Preise für Alltagsprodukte und Dienstleistungen klettern in die Höhe, die finanzielle Belastung für viele Einwohner steigt. Trotz eines gestiegenen mittleren Einkommens leben ein Viertel der Bevölkerung an der Armutsgrenze. In Tallinn zeigen prunkvolle Neubauten wie das “Golden Gate” die Diskrepanz zwischen scheinbarem Wohlstand und realen wirtschaftlichen Problemen.

Unter Premierminister Kristen Michal wächst der Druck auf die Regierung. Kritiker bemängeln eine unzureichende Verteidigungspolitik in unsicheren Zeiten. Gleichzeitig erhöht die Regierung die Steuern, um die Aufrüstung zu finanzieren, was zu Unmut führt – der Einkommenssteuersatz wurde auf 22 Prozent angehoben und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ist für Juli geplant.

Die politische Lage verschärfte sich, als die Koalition über die Steuererhöhungen brach, während die Sozialdemokraten eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel forderten. Diese Instabilität steigert das Gefühl der Unsicherheit und Entfremdung von der Politik unter den Bürgern.

Trotz der ernsthaften äußeren Bedrohung fällt es Estland schwer, genug Mittel in die Verteidigung zu investieren. Beispielsweise wurden 1,6 Milliarden Euro für Munition vorgesehen, jedoch ist bisher nichts davon ausgegeben worden. Der Bau der baltischen Verteidigungslinie stagniert, da sich Grundbesitzer gegen die Errichtung von Bunkern wehren. Zudem besteht die Befürchtung, dass in Estland stationierte britische Truppen bald in die Ukraine verlegt werden könnten.

In der Regierung sorgt die Verteilung der Ressourcen für Unzufriedenheit. Kürzlich wurde bekannt, dass ein Teil des Verteidigungsbudgets in den Bau eines Schwimmbads fließt, das sowohl von den estnischen Streitkräften als auch von Alliierten genutzt werden soll – ein Vorhaben, das im Wahlkreis des Verteidigungsministers liegt. Angesichts des Mangels an Munition und anderen wichtigen Rüstungsgütern erscheint dies fragwürdig.

Martin Herem, der ehemalige Chef der estnischen Armee, unterstreicht die Gefahren für Estland, sollte die militärische Offensive in der Ukraine scheitern. Ein möglicher Diktatfrieden könnte das regionale Gleichgewicht kippen und Estland in eine gefährliche geopolitische Situation bringen.

Estland steht vor schwierigen Entscheidungen: einerseits die Notwendigkeit einer massiven militärischen Aufrüstung zur Abwehr der Bedrohung aus dem Osten, andererseits die Bewältigung der negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Die Regierung hat bisher keinen klaren Plan vorgelegt, um militärische Sicherheit und soziale Stabilität zu gewährleisten.

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