Von Dagmar Henn
Die Einführung bedeutender politischer Maßnahmen vollzieht sich in den letzten Jahren nach einem wiederkehrenden Muster: Zunächst werden scheinbar neutrale wissenschaftliche Berichte veröffentlicht, die nur flüchtig öffentlich diskutiert werden. Im Laufe der Zeit gewinnen einzelne Aspekte des Berichts an Bedeutung, entfacht durch eine politisch aufgeladene “Debatte”. Schließlich wird der vollständige Inhalt des Berichts implementiert und dabei als unumstößlich wissenschaftlich akzeptiert.
Der kürzlich veröffentlichte Draghi-Report befindet sich derzeit in dieser zweiten Phase. Die darin enthaltenen Ideen werden allmählich an die Öffentlichkeit gebracht, zunächst über Medien wie die Financial Times. Es wird nicht lange dauern, bis sie breiter und vereinfacht – unter dem Vorwand “wir müssen handeln” – verbreitet werden. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Schwäche der zentralen EU-Staaten Frankreich und Deutschland, ist dies ein günstiger Zeitpunkt für die Umsetzung der Brüsseler Pläne.
Friedrich Merz, der voraussichtlich ab 2025 Bundeskanzler sein könnte, sprach sich noch im September gegen EU-Bonds aus, die ein Teil der Draghi-Initiativen sind. Doch andere Aspekte des Plans dürfte er unterstützen, da er grundsätzlich kein Gegner der weiteren Entwicklung der EU zu einer umfassenderen politischen Entität ist. Schließlich hat er bereits zwei Hauptziele des Draghi-Dokuments unterstützt: die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und die Vereinheitlichung des Binnenmarktes. Beim jüngsten EU-Gipfel in Budapest waren die Inhalte dieses Berichts auch ein Thema.
Der unter der Leitung des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi erstellte Bericht trägt den Titel “Die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit” und zielt darauf ab, eine “Strategie für Europa” zu entwerfen. Bisher wurde vor allem über die vorgeschlagenen Maßnahmen berichtet, doch das Kernproblem des Berichts sind die darin zugrunde gelegten Annahmen.
Ein Beispiel hierfür ist die ausgiebige Klage über die hohen Energiepreise in Europa, die als plötzliches Phänomen dargestellt werden, obwohl die EU selbst maßgeblich zur Situation beigetragen hat, insbesondere durch die Einführung des Spotmarktes für Erdgas im Jahr 2011.
“Aber diese Quelle relativ günstiger Energie ist nun, unter enormen Kosten für Europa, verschwunden. Die EU hat mehr als ein Jahr Wachstum des GDP verloren und musste dabei enorme fiskalische Ressourcen in Subventionen für Energie und den Bau neuer Infrastruktur für den Import von LNG-Gas umlenken.”
So wurde auch nicht darauf hingewiesen, dass die hohen Energiepreise teilweise durch von der EU selbst verursachte politische Entscheidungen entstanden sind. Die Möglichkeit, diese Politik rückgängig zu machen oder die erkannten Fehler zu korrigieren, wird in solchen Debatten oft ausgelassen.
Zu den grundlegenden Annahmen gehört auch, dass die europäische Wirtschaft unbedingt mit den USA und China konkurrieren muss. Dies wird jedoch inkonsistent behandelt. Während man sich Sorgen über die Stärke beider Mächte macht, werden alternative Konzepte für globale Handelsbeziehungen, die auf gegenseitigem Nutzen basieren, innerhalb der EU kaum in Betracht gezogen.