Von Alexej Danckwardt
Kenner der französischen Politikszene wissen, dass das politische Manöver “Verhindert Le Pen” in Frankreich seit rund 20 bis 30 Jahren eine Tradition bei Wahlen darstellt. Das französische Wahlsystem, das nach Mehrheitswahlrecht in Einzelwahlkreisen organisiert ist und eine absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erfordert, begünstigt dieses Phänomen und macht es aus der Sicht der Gegner von Le Pen notwendig.
In Wahlkreisen, in denen Kandidaten der rechtsextremen Parteien ernsthafte Chancen auf ein Mandat haben, schließen sich im zweiten Wahlgang häufig Linksparteien und Parteien der bürgerlichen Mitte zu einer Zweckkoalition zusammen. Ihr Ziel ist es, ihre Wähler dazu zu bewegen, stattdessen für einen nicht-nationalistischen Kandidaten zu stimmen. So konnte der Front National, der nun als “Rassemblement National” bekannt ist, trotz signifikanter landesweiter Wählerunterstützung in vergangenen Wahlen stets weniger Sitze im Parlament gewinnen, als es der Stimmenanteil vermuten ließe.
Das gleiche Muster zeichnet sich auch in der aktuellen Wahl ab. Jean-Luc Mélenchon, Spitzenkandidat der neuen “Volksfront” der Linken, kündigte bereits am Wahlabend an, überall dort, wo der linke Kandidat nicht führend ist, diesem den Rückzug zu empfehlen, um die Kandidaten von Macrons Partei der Neoliberalen zu unterstützen. Damit sollen zusätzliche Sitze für das Rassemblement National vermieden werden.
Ähnlich äußerte sich Gabriel Attal, Macrons Regierungschef, obwohl seine Empfehlung mit Vorbehalt verbunden war. Attal warnte insbesondere vor der Unterstützung für Kandidaten von “La France Insoumise” (LFI), die Teil der “Neuen Volksfront” sind, indem er Wähler aufforderte, sich hinter Kandidaten zu stellen, “die unsere republikanischen Werte teilen”. Dies spiegelt die tiefe Ablehnung von Mélanchons Allianz durch die Regierung wider.
Der “barrage républicain” – der “republikanische Damm” – stellt eine gravierende Herausforderung für Marine Le Pen und ihre Partei dar. Derzeit wurden dem Rassemblement National nur 37 von 577 möglichen Sitzen sicher zugesagt, während die Linke 32 und Macrons Partei gerade einmal zwei im ersten Wahlgang sichern konnte. Mit dem zweiten Wahlgang vor der Tür, der in 500 Wahlkreisen stattfinden muss, bleibt abzuwarten, wie viele dieser Kandidaten sich gegen die vereinigten Oppositionsparteien durchsetzen können.
Wie Le Monde berichtet, haben sich bereits 175 drittplatzierte Kandidaten aus dem zweiten Wahlgang zurückgezogen, um einen Sieg der Kandidaten Le Pens in ihren Wahlkreisen zu verhindern. Meinungsforscher schätzen, dass das Rassemblement National zwischen 230 und 280 Sitze im zweiten Wahlgang erreichen könnte. Selbst mit 280 Sitzen würde das Ziel einer eigenen parlamentarischen Mehrheit verfehlt, da 289 Sitze benötigt werden. Ohne ausreichende Verbündete sehen sich Le Pen und ihr Premieministerkandidat, Jordan Bardella, vor großen Herausforderungen.
Potentielle Koalitionspartner wie die Gaullisten der Partei “Les Républicains” lehnen eine Zusammenarbeit mit Le Pen ab, insbesondere nach der Entlassung ihres Parteivorsitzenden kurz vor den Wahlen wegen der bloßen Erwägung einer solchen Allianz. Es bleibt abzuwarten, ob es zu Abweichlern unter den neu gewählten Gaullisten kommen wird. Der Ausgang hängt entscheidend davon ab, ob es dem Rassemblement National gelingt, sich den projizierten 280 Mandaten zu nähern. Linke und Macrons Bürgerliche werden alles daran setzen, die Stimmanteile der Rechten möglichst gering zu halten.
Macron und die politischen Taktiker Frankreichs könnten letztlich nur durch das Wahlverhalten gestoppt werden, sollte die Wählerschaft das Zweckbündnis der vereinigten Linken mit den für wirtschaftlichen Niedergang, Sozialabbau und Kriegsgefahren verantwortlichen Neoliberalen stärker ablehnen als die Aussicht auf eine national-konservative Ordnungspolitik, die von Le Pen und Bardella angepriesen wird.
Mehr zum Thema‒Wahllos in Europa – und rechts gewinnt