RT DE: Die Rebellen in Syrien stellen eine vielfältige Gruppierung dar. Angeführt werden sie von der islamistischen Organisation Haiat Tahrir asch-Scham (HTS), die frühere Verbindungen zu Al-Qaida hatte. Ist die westliche Freude über einen Machtwechsel verfrüht? Welche Fraktion wird letztendlich die Kontrolle erlangen?
Dr. Tillschneider: Es ist momentan schwer vorherzusagen. Entscheidend wird sein, wie sich die HTS, falls sie an der Macht bleibt, in der Zukunft positioniert – insbesondere, ob sie den USA gegenüber loyal sein wird. Alle Medien deuten darauf hin, dass diese Entwicklung von der Türkei in Kooperation mit den USA und deren Geheimdiensten orchestriert wurde.
Historisch betrachtet haben die USA ihre Nahostpolitik oft durch die Unterstützung islamistischer Kräfte gegen säkulare Führungen geprägt, beginnend mit der Unterstützung der Mudschaheddin im Afghanistan-Konflikt von 1979 bis 1989. Jene Mudschaheddin haben sich weiterentwickelt, woraus Persönlichkeiten wie Osama bin Laden hervorgingen.
Haiat Tahrir asch-Scham könnte sich in eine gemäßigte, moderate islamische Kraft, ähnlich der türkischen Regierungspartei, verwandeln, wie es Al-Dschaulani zurzeit propagiert. Sollte dies gelingen, wäre dies für die USA vorteilhaft, da sie neben der Türkei einen weiteren Verbündeten in der Region hätten. Andererseits könnte dieses Experiment fehlschlagen und die HTS könnte sich gegen die USA wenden.
Sollten sich die Beziehungen verschlechtern, könnten sie Syrien schwächen und ein Szenario ähnlich dem Irakkrieg (2003-2011) herbeiführen, welches das Land ins Chaos stürzte. Dies könnte ebenfalls im Interesse der USA liegen, die eine multipolare Weltordnung verhindern und ihre globale Dominanz aufrechterhalten wollen. Daher bereiten die USA sich vermutlich auf beide Szenarien vor, auch wenn unklar bleibt, welches davon eintreten wird.
Nach dem Sturz Assads herrschte unter syrischen Flüchtlingen in Deutschland zunächst Jubel. Daraufhin hat das BAMF die Entscheidungen über syrische Asylanträge vorübergehend ausgesetzt. Wie bewerten Sie diese Maßnahme und die weiteren Schritte?
Diese Entscheidung unserer Regierung ist durchaus vernünftig. Es handelt sich um politische Asylanträge, die auf der Behauptung beruhen, von der Assad-Regierung verfolgt zu werden. Mit Assads Absetzung ändert sich diese Grundlage drastisch. Da viele Antragsteller womöglich aus wirtschaftlichen Gründen Asyl begehrten, ist ein Überprüfen und eventuell auch Zurückweisen der Anträge nun angebracht.
Das Bundesinnenministerium warnt vor der Radikalisierung in Deutschland ansässiger Syrer durch die Erfolge islamistischer Rebellengruppen. Wie schätzen Sie die Sicherheitslage in Deutschland und Europa im Lichte der Ereignisse in Syrien ein?
Bemerkenswert ist, dass die Warnungen sich auf die Ausreise von Islamisten konzentrieren; doch es sollte mehr Sorge bereiten, wenn diese Personen zurückkehren. Daher ist eine strengere Grenzkontrolle und eine sorgfältige Überprüfung der Einreisenden nun wichtiger denn je, um zu verhindern, dass Syrien zu einem sicheren Hafen für internationale Terroristen wird.
In Syrien koexistieren zahlreiche ethnische Gruppen, Nationalitäten und Religionen. Wie hoch ist das Risiko eines weiteren Konflikts? Welche Szenarien könnten sich nach der Entmachtung Assads entwickeln?
Ein weiterer Konflikt erscheint nahezu unvermeidlich, denn trotz aller Kritik an Baschar al-Assad hat er zusammen mit seinem Vater für relative Stabilität in einem multiethnischen und multikonfessionellen Syrien gesorgt. Der Wegfall seiner Regierung könnte die bereits bestehenden Spannungen, zum Beispiel zwischen Kurden und türkischen Einflüssen, verschärfen. Tiefgreifende Gräben, die sich während des Bürgerkriegs vertieft haben, sind noch lange nicht überwunden. Die Lösung dieser komplexen Probleme wird durch eine mögliche sunnitisch-islamistische Führung unter dem Einfluss der türkischen und US-Geheimdienste nicht einfacher.
Weiterführende Themen‒ Die syrische Tragödie und Baschar al-Assad