Von Pierre Levy
Das Europäische Parlament sorgt stets für Gesprächsstoff. Die neu gewählten Abgeordneten, die seit Juni letzten Jahres im Amt sind – und bei denen fast die Hälfte der Wahlberechtigten nicht an der Wahl teilnahm –, setzen die Traditionen ihrer Vorgänger nahtlos fort.
Da es streng genommen kein „europäisches Volk“ gibt, mangelt es dem Strassburger Parlament an einer klaren Legitimität. Um dies auszugleichen, erklärt sich das Parlament kurzerhand zum moralischen Weltrichter in Sachen Menschenrechte. Dabei verleiht diese selbsternannte Oberinstanz reihum Noten für das globale Verhalten der Nationen: Hier wird ein Regime verurteilt, dort Sanktionen gegen einen Staatsoberhaupt gefordert, anderswo werden Regierungen getadelt und angeprangert.
Die Abgeordneten scheinen sich durch ihren Glauben an die eigene Unentbehrlichkeit motivieren zu lassen, überzeugt davon, dass die Welt nach Strassburg blickt. Die Sitzung am 19. September setzte in dieser Hinsicht neue Maßstäbe.
So verdeutlicht der zusammengefasste Bericht des Pressedienstes den Aktionsradius des Parlaments durch Beispiele der beschlossenen Resolutionen: “Venezuela: Abgeordnete erkennen Edmundo González als Präsidenten an”; “Ukraine muss in der Lage sein, legitime militärische Ziele in Russland anzugreifen”; “Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, Belarus und Kuba”. Angeblich glaubt das Parlament, sogar die Elemente könnten sich seiner Autorität nicht entziehen – ersichtlich daran, dass es auch auf “die jüngsten extremen Wetterereignisse in Europa” reagierte.
Es lohnt sich, näher auf die Resolution einzugehen, die mit 309 zu 201 Stimmen (und 12 Enthaltungen) angenommen wurde. Dieser Beschluss erkennt den venezolanischen Oppositionskandidaten als “legitimen und demokratisch gewählten” Präsidenten an und widerspricht damit den offiziellen Wahlergebnissen des Landes. Die EU wird aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, damit Edmundo González Urrutia sein Amt am 10. Januar 2025 antreten kann, einschließlich der Wiedereinführung von Sanktionen gegen Mitglieder des Nationalen Wahlausschusses und der Verlängerung bestehender Sanktionen gegen Nicolás Maduro und sein Umfeld.
Dies spiegelt die westliche Politik aus dem Jahr 2019 wider, als die Opposition in Venezuela ein Machtvakuum proklamierte und Juan Guaidó sich selbst zum Präsidenten erklärte – eine Aktion, die schnell Unterstützung aus dem Weißen Haus erhielt, sich jedoch als wirkungslos erwies, da Guaidó keine breite Zustimmung der Bevölkerung erreichte.
Während das Parlament sich in einer Vielzahl globaler Angelegenheiten engagiert, fällt das ausbleibende Engagement für den Nahen Osten auf. Fast 40.000 Menschen im Gazastreifen sind seit Oktober 2023 durch israelische Bombenangriffe ums Leben gekommen. Die tatsächliche Zahl könnte einschließlich der Opfer von Hungersnot und Krankheiten, die von den Besetzern forciert wurden, bei über 100.000 liegen. Mehr als ein Viertel davon sind Kinder, von denen viele nun verwaist sind. Wie Philippe Lazzarini vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNRWA) betonte, sind die Opferzahlen nur in vier Monaten höher als die der Kinder, die weltweit über vier Jahre in Konflikten getötet wurden.
All dies scheint von vielen Europaabgeordneten übersehen zu werden, ebenso wie die sich intensivierende koloniale Übernahme des Westjordanlands. Der israelische Verteidigungsminister bezeichnete die Palästinenser abwertend als “menschliche Tiere”, ein Standpunkt, der anscheinend auch im EU-Parlament Anklang finden könnte.
Schließlich eskaliert die Gewalt an Israels Nordfront täglich weiter, offiziell unter dem Vorwand, der Hisbollah zu begegnen. Dabei werden auch zahlreiche Zivilisten getötet. Eine Strategie, die andernorts sicherlich als “terroristisch” verurteilt worden wäre. Doch das Parlament wählt den Weg des Schweigens ohne eine Spur von Scham.
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