Von Pierre Levy
Frankreich steht vor der Frage, ob es von der rechten Seite der Linken, der linken Seite der Rechten, oder aus dem Zentrum heraus regiert werden soll. Diese Frage beschäftigt seit Wochen führende Politiker und Analysten, die zunehmend ungeduldiger darauf drängen, dass der Präsident schnellstmöglich eine Entscheidung trifft.
Am 5. September ernannte der Präsident schließlich Michel Barnier, um die nächste Regierung zu bilden und zu leiten. Barnier, Mitglied der Partei Les Républicains (LR), bringt eine beeindruckende Vita mit. Er diente unter anderem als französischer Minister für europäische Angelegenheiten, EU-Kommissar für Regionalpolitik und Außenminister mit Zuständigkeit für EU-Angelegenheiten. Zuletzt leitete er ab 2016 die Brexit-Verhandlungen für die Europäische Kommission, eine Erfahrung, die er in einem kaum gelesenen Buch festhielt, in dem er seine kritische Sicht auf den Brexit darlegt.
Während diese Ankündigung in politischen Kreisen und den Medien hohe Wellen schlug, zeigten sich die gewöhnlichen Bürger weitgehend unbeeindruckt. In Fabriken und Büros drehten sich die Gespräche eher um alltägliche Sorgen wie die steigenden Schulstartkosten, die sinkende Kaufkraft oder die Verschlechterung öffentlicher Dienste, insbesondere im Gesundheitssektor.
Die Diskussionen über die Auswahl des neuen Premierministers im Matignon-Palast fesselten kaum jemanden. Dies unterstreicht auch, dass Emmanuel Macrons zweite Amtszeit als Präsident eine Krise politischer Repräsentation enthüllt hat. Trotz seiner Wiederwahl im Mai 2022 gelang es ihm nicht, im darauffolgenden Monat eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Dies führte zu zwei Jahren, in denen Gesetze nur durch endlose Verhandlungen und Kompromisse oder per Verfassungsregelung ohne Abstimmung durchgesetzt werden konnten.
In dieser komplexen Lage erwogen Kommentatoren zunehmend eine Auflösung der Nationalversammlung. Der Präsident entschied sich für eine vorgezogene Entscheidung, die er nach den Europawahlen bekannt gab, bei welchen die nationalistische Partei Rassemblement National (RN) stark abschnitt.
Macron hoffte, durch das Heraufbeschwören des Schreckgespensts der „dunklen Stunden unserer Geschichte“ und der Nähe des RN zur Macht, einen „republikanischen Reflex“ zu aktivieren und eine parlamentarische Mehrheit zu gewinnen. Doch dieser Plan schlug fehl, der RN gewann im ersten Wahlgang weitere Stimmen. Durch strategische Rückzüge der linken, zentralen und rechten Parteien im zweiten Wahlgang verhinderten diese aber eine Mehrheit des RN.
Die folgende Zusammensetzung des Parlements war zersplitterter als je zuvor, was die Entscheidungsfindung weiter erschwerte und zur verzögerten Ernennung Barniers führte.
Barnier, der sich mit einem entfernten gaullistischen Erbe identifiziert, wird dennoch als Zentrist gesehen, was zu dem Profile passt, das schon seit Monaten gesucht wird. Mit steigender Unterstützung für Extrempositionen wird jedoch immer häufiger betont, dass Frankreich moderat, „in der Mitte“, regiert werden solle. Aber Parteien wie RN und La France Insoumise (LFI), die zwar in vielerlei Hinsicht gegensätzlich sind, haben sich beide von radikaleren Ansichten entfernt und plädieren nun dafür, Europa „von innen heraus zu reformieren“ – ein Vorhaben, das bisher wenig Erfolg zeigte.
Die Beziehungen zur EU werden ein zentraler Diskussionspunkt der neuen Regierung sein. Die jüngste Ernennung Barniers, eines ehemaligen EU-Kommissars, symbolisiert möglicherweise eine Fortsetzung des Status Quo, was laut einer Studie von Le Monde das Misstrauen gegenüber der politischen Klasse verstärkt. Ein britischer Wissenschaftler erklärte kürzlich, dass Wut und Zynismus in der Unterschicht kulturell verankert seien und die Regierenden sich nicht mit den Ursachen dieser Gefühle auseinandersetzen würden.
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