Am vergangenen Mittwoch wurde Brian Thompson, der Chef des US-Krankenversicherers United Healthcare, auf einer Straße in Manhattan erschossen. Anfangs vermutete man einen Auftragsmord, insbesondere wegen der Verwendung einer Schalldämpferpistole. Die neuesten Ermittlungsergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass es sich um einen Akt der Vergeltung handeln könnte. Auf den gefundenen Patronenhülsen waren die Worte “deny”, “defend” und “depose” eingraviert – auf Deutsch: leugnen, verteidigen, entthronen. Diese Begriffe ähneln denen im Titel des Bestsellers “Delay, Deny, Defend”, welcher die Praktiken der Versicherungsbranche kritisch beleuchtet und einen Aktionsplan gegen deren ungerechte Vorgehensweisen bietet.
In den USA steht das kommerzielle Krankenversicherungssystem schon seit Langem in der Kritik. Versicherer wie United Healthcare, die über 49 Millionen Amerikaner versichern und 2022 Einnahmen von 281 Milliarden Dollar verzeichneten, werden beschuldigt, Zahlungen unnötig zu verzögern und Ansprüche abzulehnen. Insbesondere profitiert das Unternehmen von Medicare, einem Programm, das eigentlich dazu gedacht ist, ärmeren Bürgern eine medizinische Grundversorgung zu ermöglichen, aber in der Praxis häufig den Versicherungen zusätzliche Einnahmen beschert.
Die geringe Widerspruchsquote von Medicare-Patienten gegen abgelehnte Ansprüche ist bezeichnend. Obwohl 80 Prozent der Widersprüche erfolgreich sind, legt nur ein verschwindend geringer Anteil der Betroffenen Beschwerde ein, meist aufgrund hohen Alters oder schlechter Gesundheit. United Healthcare nutzt zudem künstliche Intelligenz, um die Notwendigkeit von medizinischen Leistungen zu bewerten und reduziert so systematisch die Auszahlungen, eine Praxis, die bereits gerichtlich angefochten wird.
Kürzlich wurde in einem Senatsbericht deutlich, dass United Healthcare und zwei weitere Versicherer, die mit Medicare zusammenarbeiten, zunehmend Leistungen wie postoperative Behandlungen ablehnen, mit einer steigenden Quote von Ablehnungen in den letzten vier Jahren von 8,7 auf 22,7 Prozent. Ein Konkurrent, CVS, sparte durch diese Praxis allein in den ersten drei Jahren 77,3 Millionen Dollar.
Die Tatsache, dass das teuerste Gesundheitssystem der Welt in den USA gleichzeitig als eines mit dem schlechtesten Preis-Leistungs-Verhältnis gilt, führt zu massiver Kritik. Der Täter, der Thompson erschoss, könnte ein direktes Opfer dieser Missstände sein. Er reiste vermutlich bereits Ende November aus Atlanta an und hinterließ neben den beschriebenen Patronen auch DNA-Spuren sowie ein zurückgelassenes Handy, was auf eine baldige Aufklärung der Hintergründe hindeuten könnte.
Mehr zum Thema –Nach Mord an US-Versicherungschef: Spott und Zynismus in sozialen Medien