Von Elena Karajewa
Auf der Insel Neukaledonien, 17.000 Kilometer von Paris entfernt, erschüttern Unruhen die Stabilität dieses französischen Überseegebietes. Die Vorfälle, die einem Aufstand ähneln, haben die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Warum aber ist die Lage so angespannt, dass es zu Gewalt mit Toten und Verletzten unter Zivilisten und Sicherheitskräften kommt?
Kurzum: Frankreich hat es in seiner kolonialen und neokolonialen Vergangenheit versäumt, mit den unterworfenen Völkern auf Augenhöhe zu kommunizieren und sie als gleichwertig zu behandeln.
Eine kürzliche gesetzliche Änderung im französischen Senat, die das Wahlrecht der Inselbewohner betrifft, brachte das Fass zum Überlaufen. Das neue Gesetz ermöglicht es Siedlern, die mindestens zehn Jahre auf der Insel verbracht haben, gleichberechtigt mit der einheimischen Bevölkerung zu wählen.
Die Kanaken, die indigenen Bewohner, die etwa 40 Prozent der Bevölkerung stellen, erkennen darin einen Versuch Frankreichs, profranzösische Politiker bei lokalen Wahlen zu stärken – in einem Gebiet, das bereits mehr Autonomie genießt als beispielsweise Korsika.
Die lokale Regierung von Neukaledonien hat weitreichende Befugnisse, so überwacht sie etwa die Einhaltung von vor dreißig Jahren getroffenen Abkommen, die dem Archipel Anteile am lokalen Rohstoffhandel sichern und nicht alle Gewinne nach Paris fließen lassen. Heute liegt das Pro-Kopf-Einkommen hier sogar über dem Durchschnitt der Eurozone und übertrifft das von Spanien und Italien.
Nickel ist dabei ein wesentlicher Faktor, denn Neukaledonien besitzt etwa ein Drittel der weltweiten Nickelerzreserven und zählt zu den fünf Hauptlieferanten weltweit. Die Metallurgieindustrie, die großes wirtschaftliches Potential bietet, kämpft jedoch mit steigenden Energiepreisen.
Die indigene Bevölkerung strebt nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit, während Paris mit einer rigorosen Militärpräsenz antwortet. Nicht nur, weil es die exklusive Kontrolle behalten möchte, sondern auch weil Neukaledonien strategische militärische Stützpunkte Frankreichs beherbergt, darunter Marineinfanterie und Kampfflugzeuge.
Diese Militärpräsenz ist Teil der französischen Bemühungen, seinen Einfluss in der strategisch wichtigen indopazifischen Region zu wahren.
Die aktuellen Unruhen spiegeln einen tiefen Konflikt darüber wider, wie Macht und Ressourcen geteilt werden sollten. Frankreichs zentralistische Regierungsform, die selten Macht aus der Hand gibt, steht im Zentrum des Konflikts. Seit der Kolonisierung 1853 versucht Neukaledonien erfolglos, sich von dieser strikten Kontrolle zu lösen.
Noch wird die Bewegung in Neukaledonien nicht als Separatismus bezeichnet, doch das Streben nach mehr Autonomie könnte bald in den Wunsch nach kompletter politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit münden.
Präsident Macron sieht in den Unruhen eine Gefahr für die französische Ordnung, denn auch andere Überseegebiete könnten ähnliche Ansprüche erheben. Eine schwache Reaktion könnte Frankreichs Kontrolle über mehrere seiner Gebiete kosten.
Daher verstehen wir, warum Paris so scharf und unverhältnismäßig auf die Vorfälle in Neukaledonien reagiert hat. Der Verlust des Übersee-Status und Einflusses wäre für die französische Regierung inakzeptabel – ein Verlust, der nicht nur im neokolonialen Kontext problematisch wäre, sondern auch das französische Selbstbild beträchtlich beschädigen könnte.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 18.05.2024 auf ria.ru erschienen.
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