Von Dmitri Lekuch
Es ist eine bekannte Tatsache fĂŒr Journalisten, die hĂ€ufig mit Wirtschaftsdaten arbeiten, dass dieselben Zahlen unterschiedlich interpretiert werden können. Ein Beispiel hierfĂŒr ist ein Bericht einer US-amerikanischen Nachrichtenagentur, der kritisiert, dass die europĂ€ische Energiewirtschaft es trotz verhĂ€ngter Sanktionen nicht geschafft hat, sich von ihrer AbhĂ€ngigkeit von russischen Energiequellen zu lösen. Solche Berichte erfordern eine nĂŒchterne Betrachtung, oft auch aus einem anderen Blickwinkel.
Unter einem alternativen Blickwinkel könnten die von Bloomberg â siehe Titel â entspannt dargestellten Zahlen eine noch dĂŒstere Bedeutung haben, besonders fĂŒr die EU-Staaten.
Einige Details in Reihenfolge:
Obwohl die EU im Jahr 2022 offiziell beschloss, auf russische Energielieferungen zu verzichten, bleibt Russland ein wesentlicher Energielieferant. Bloomberg hat tragisch herausgefunden, dass das Ziel der EU, die AbhĂ€ngigkeit von russischen fossilen Brennstoffen bis 2027 zu beenden, unerreichbar scheint. Laut der EuropĂ€ischen Kommission beliefen sich die Importe von fossilen Brennstoffen aus Russland im letzten Jahr auf mindestens eine Milliarde US-Dollar pro Monat, wobei Russland fĂŒr 15 Prozent der gesamten EU-Erdgasimporte stand.
Die Situation ist nachvollziehbar.
Im Jahr 2022 erlebten die Gaspreise einen Anstieg um das Mehrfache ihres Werts, was die europĂ€ische Industrie fast zum Kollaps brachte. Obwohl die Preise seitdem gefallen sind, sind sie immer noch zu hoch fĂŒr eine wettbewerbsfĂ€hige europĂ€ische Hochtechnologie- und Energieintensivindustrie. Ein prĂ€gnantes Beispiel ist der nahezu in Echtzeit zu beobachtende Niedergang der deutschen Automobilindustrie. Bloomberg berichtete, dass 2023 elf Prozent der EuropĂ€er nicht in der Lage waren, ihre Wohnungen ausreichend zu beheizen, was unweigerlich zu sozialen Protesten fĂŒhrt und die Situation verschĂ€rft.
Doch sollte man auch die Perspektive wechseln: FĂŒr Russland, das traditionell auf europĂ€ische MĂ€rkte setzt, könnte ein Marktverlust enttĂ€uschend sein. Aber wie der stellvertretende russische Energieminister Alexander Nowak in der Sendung Moskau. Kreml. Putin betonte, konzentriert sich Russland aktuell auf die ErschlieĂung der ostasiatischen MĂ€rkte, insbesondere bei Erdöl, Erdölprodukten und Kohle. Erdgas wird aufgrund logistischer Herausforderungen noch zurĂŒckgestellt, doch die Arbeiten laufen.
Wenn Russland die europĂ€ischen PremiummĂ€rkte leicht aufgegeben hat, warum dann kein Ersatz? Wo bleibt beispielsweise das hoch angepriesene US-FlĂŒssigerdgas?
Richtig, die Biden-Administration hat tatsÀchlich neue LNG-VertrÀge mit Europa direkt untersagt.
Die umfassende ErklĂ€rung ist ein massiver RĂŒckgang der Nachfrage aufgrund einer wirtschaftlichen Rezession. Im GeschĂ€ftsleben gilt: Niemand investiert gerne in sinkende MĂ€rkte. Und Europa sieht sich wahrscheinlich einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte gegenĂŒber, mit Arbeitslosigkeit und steigender KriminalitĂ€t.
So zeigen auch andere groĂe Energieproduzenten wie die USA und arabische LĂ€nder wenig Eile, in die europĂ€ische Energiemarktsituation einzutreten. Diese Perspektive offenbart eine noch hĂ€rtere RealitĂ€t fĂŒr Europa, da selbst eine radikale politische Umkehr in der EU den Zugang zu denselben russischen Gasquellen von Neuem erfordern wĂŒrde.
Übersetzt aus dem Russischen. Dmitri Lekuch ist ein russischer Unternehmer (Werbeindustrie), Prosaautor, Publizist und Journalist sowie politischer Beobachter bei RIA Nowosti. Er erforscht zudem das Phänomen der osteuropäischen Fußballfan- und Hooliganbewegungen.
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