Von Pierre Lévy
Die jüngste Auflösung der französischen Nationalversammlung durch Präsident Emmanuel Macron, bekannt gegeben nur eine Stunde nach Veröffentlichung der ersten Wahlresultate vom 9. Juni, löste breites Erstaunen aus. Kommentatoren und politische Analysten äußerten durchaus eingängige Metaphern wie “Pokerspiel”, “Banque-Spiel” oder “Sprung ins Leere”. Auch EU-Politiker zeigten sich beunruhigt, hielten sich jedoch überwiegend zurück.
Das überraschend hohe Abschneiden des Rassemblement National mit 31,4 Prozent veranlasste Macron, die Franzosen für den 30. Juni und 7. Juli erneut zur Wahl zu rufen. Diese Situation verdeutlicht, dass nicht von einer einzigen Europawahl gesprochen werden kann, sondern von 27 nationalen Wahlen in 27 unterschiedlichen Ländern mit jeweils eigenen politischen und kulturellen Kontexten, auch wenn einige übergreifende Trends beobachtbar sind.
Bereits längere Zeit hatte Macron laut engen Vertrauten eine Auflösung des Parlaments erwogen, bevor er im Mai 2022 zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt wurde. Umfragen deuteten schon früh auf ein starkes Ergebnis für das Rassemblement National hin, und tatsächlich erzielte die Liste, angeführt von Jordan Bardella, ein weit besseres Ergebnis als die liberale Liste von Valérie Hayer mit lediglich 14,6 Prozent.
In seiner Ansprache musste Macron indirekt seine Niederlage eingestehen. Er hatte seine Wiederwahl angetreten, um die als “nationalistisch” und “antieuropäisch” bezeichneten Kräfte zu schwächen und die europäische Integration zu stärken.
Trotz der Annäherung des RN an die politischen Eliten und der Abschwächung einiger seiner Positionen, wie zum Beispiel der Unterstützung der Ukraine, representa der RN weiterhin den Widerstand gegen Brüssel in den Augen vieler Wähler. Diese Wahrnehmung macht das Wahlergebnis zu einem Rückschlag für Macron und seine europäische Vision.
Angesichts des parlamentarischen Stillstands und der Anforderungen der EU an Reformen sahen Macrons Strategen in der Auflösung eine Chance, die politische Initiative zurückzugewinnen. Macron selbst, der 2027 nicht erneut antreten kann, versucht, Einfluss auf die Auswahl seines Nachfolgers zu nehmen und mögliche Bewerber zu überrumpeln.
Die von Macron projizierte Alternative “Ich oder das Chaos”, dient dazu, Unterstützung vor allem von der Partei Les Républicains zu sammeln. Neben ideologischen Nähen zu dieser wie auch zur Sozialistischen Partei setzt Macron auf eine sehr kurze Wahlkampagne, um potenzielle Allianzen auf der linken Seite zu stören.
Das politische Schicksal Frankreichs bleibt jedoch ungewiss. Ob die Nationalversammlung von einer Mehrheit Macron-treuer, linksgerichteter oder RN-dominierten Abgeordneten dominiert wird, ist noch offen. Besonders letztere Szenarien sind in Brüssel gefürchtet, da sie die ohnehin bestehenden Probleme und Konflikte in der EU verstärken könnten.
Durch die Auflösung der Nationalversammlung werden auch die ohnehin komplexen Verhandlungen über die Besetzung der höchsten EU-Ämter erschwert. Es bleibt abzuwarten, welche Klarheit die anstehenden Wahlen bringen werden.
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