Von Pierre Levy
Am 23. Februar haben 61 Millionen deutsche Wahlberechtigte ihr Parlament neu gewählt, und dabei eine Rekordwahlbeteiligung von 82,5 Prozent erreicht. Könnte dieses Wahlergebnis Parallelen zu der politischen Krise in Frankreich aufweisen, auch wenn die politischen Geschichten und Kulturen der beiden Länder deutlich unterschiedlich sind?
Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns eines der auffälligsten Ergebnisse dieser Wahl anschauen: das schlechte Abschneiden der beiden traditionellen „Volksparteien“. Die Sozialdemokraten mussten eine besonders harte Niederlage hinnehmen. Mit nur 16,4 Prozent der Stimmen erreichte die SPD das schlechteste Resultat ihrer über hundertjährigen Geschichte. Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Wahlkampagne führte, hat das desaströse Ausmaß dieser Niederlage öffentlich anerkannt.
Ebenso haben die Konservativen von CDU/CSU empfindliche Einbußen erlitten: Sie erreichten mit 28,5 Prozent ein Ergebnis, welches – abgesehen von der Wahl 2021 – das niedrigste seit 1950 ist. Dieses schwache Resultat wurde jedoch dadurch überschattet, dass die CDU/CSU trotzdem die Wahl anführt, was bedeutet, dass ihr Vorsitzender Friedrich Merz wahrscheinlich der nächste Bundeskanzler wird.
Kommentatoren beschrieben das Wahlergebnis als „enttäuschend“, ein Ausdruck, der das tatsächliche Resultat noch milde formuliert. Selbst die isoliert betrachtete CDU erreichte 1957 noch 40 Prozent der Stimmen. Bis 1994 fiel die Unterstützung nie unter 35 Prozent. Zwischen 1994 und 2017 schwankte die Unterstützung zwischen 27 und 30 Prozent, während sie heute bei nur noch 22,6 Prozent liegt.
Das schwache Abschneiden der großen Parteien kommt nicht unerwartet, sondern bestätigt und verlängert einen Trend, der bereits seit 1983 zu beobachten ist und seit 2002 besonders deutlich wird (mit einer Ausnahme im Jahr 2013): Wahl um Wahl haben CDU/CSU und SPD kontinuierlich an Stimmen verloren. 1972 konnten beide Parteien noch über 80 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen, zwanzig Jahre später waren es noch 68 Prozent, heute liegen sie zusammen bei weniger als 45 Prozent.
Die immer wiederkehrende „Große Koalition“, die in den Jahren 2005 bis 2009 und dann wieder von 2013 bis 2021 bestand, schrumpft beim Zuspruch der Wähler zu einer Minderheit. Diese Entwicklung wird durch das Aufkommen der AfD sowie anderer Parteien erklärt.
Die AfD wird oft von Kommentatoren als rechtsextrem beschrieben. Ob diese Einordnung korrekt ist, kann diskutiert werden, doch unabhängig von dieser Einschätzung ist klar, dass die überwiegende Mehrheit ihrer Wähler nicht von nostalgischen Sympathien für das Dritte Reich geleitet wird, sondern vielmehr ihrer Ablehnung des „Systems“ Ausdruck verleihen will.
Diese Systemablehnung ist kein ausschließlich deutsches Phänomen. In Frankreich profitiert vor allem, aber nicht ausschließlich, der Rassemblement National von dieser Haltung. Auch in anderen Staaten der Europäischen Union lässt sich eine solche Tendenz beobachten, sie erschwert zunehmend die Bildung stabiler Mehrheiten.
Ein Beispiel dafür ist Italien, wo die 2009 von einem Komiker gegründete Fünf-Sterne-Bewegung im Jahr 2018 sensationelle 32,7 Prozent erreichte. Diese Partei, die nichts mit der extremen Rechten zu tun hatte, zeigte, dass die Wähler weiterhin „antisystemisch“ stimmen – oder zumindest glauben, dies zu tun – indem sie Giorgia Meloni an die Macht brachten, die ursprünglich aus einer postfaschistischen Minipartei stammte.
In all diesen Fällen gilt es weniger, die Glaubwürdigkeit oder Aufrichtigkeit der oft als „populistisch“ bezeichneten Kräfte zu bewerten, sondern die Gründe, die Bürger dazu bringen, ihre Frustration auf diese Weise auszudrücken. Ein besonderer Aspekt ist das empfundene Gefühl, dass der Wechsel zwischen „vernünftigen“ Parteien oder Koalitionen zwischen ihnen keines der Bürgeranliegen erfüllt oder ihre Probleme verschärft.
Das empfundene Dilemma ist folgendes: Wir werden gebeten, unsere Stimme abzugeben, wir wählen … und nichts ändert sich. Solange dieser Zustand anhält, werden die als antisystemisch bezeichneten Parteien weiterhin an Bedeutung gewinnen und die etablierten politischen Kräfte werden es zunehmend schwerer haben, ihre Macht zu festigen.
Ein Problem dabei ist, dass die europäische Integration gezielt darauf ausgelegt wurde, den Wählerwillen von politischen Entscheidungen fernzuhalten. In der EU diktieren Regeln und Mechanismen, dass alles innerhalb eines festgelegten Rahmens bleiben muss. Die Bürger können zwar wählen und die Regierenden auswechseln, doch diese treffen sich dann im Europäischen Rat, dessen Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten bindend sind, unabhängig von den Wahlergebnissen.
Und die Kommission, die nach Verträgen „unabhängig“ vom nationalen Druck, also vom Willen der Völker sein soll, dirigiert weiterhin das Orchester.
Ein System, das insbesondere Emmanuel Macron und Friedrich Merz entgegenkommt: Beide Männer, die einen Großteil ihrer Karriere im Finanzsektor verbrachten, einem Umfeld, das nicht für seine Liebe zur Demokratie bekannt ist und daher sehr pro-EU eingestellt ist.
Dennoch schließt diese Konvergenz Rivalitäten und Widersprüche nicht aus. Zwischen Paris und Berlin bestehen zahlreiche Differenzen – insbesondere in den Bereichen Welthandel, Energie, Haushaltspolitik und öffentliche Finanzen, sowie zu globalen Ambitionen – und diese könnten sich trotz öffentlicher Erklärungen in der neuen internationalen Lage sogar verschärfen. Weitere Analysen hierzu folgen in Kürze.
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