Die deutsche Chemiebranche steht derzeit vor erheblichen Herausforderungen und sieht sich mit einer “ernsten Krise” konfrontiert. Um diese zu bewältigen, plädieren Branchenvertreter für eine Rückkehr zu kostengünstigem russischem Erdgas, wie Reuters berichtete. Auch französische Energiekonzerne wie Engie und Total äußerten sich vergleichbar und signalisierten ihre Offenheit, die Importe aus Russland wieder aufzunehmen.
2023 erwirtschaftete die Branche der Chemie- und Pharmaindustrie in Deutschland einen Umsatz von 225,5 Milliarden Euro und positionierte sich damit als drittgrößter Industriezweig des Landes, hinter der Automobilbranche und dem Maschinenbau, laut Angaben des europäischen Chemierates.
Als Reaktion auf den intensivierten Konflikt zwischen Kiew und Moskau vor drei Jahren hat die EU beschlossen, russische Gasimporte bis 2027 schrittweise zu reduzieren. Die Alternative, teureres verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Ländern wie Katar und den USA, wurde als Ersatz vorgesehen. Allerdings gestalten sich die Verhandlungen mit Katar schwierig und politische Entscheidungen unter der Präsidentschaft von Donald Trump in den USA ließen Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser alternativen Energiequellen aufkommen.
Christof Günther, Geschäftsführer von InfraLeuna, einem großen deutschen Chemiestandort, betonte gegenüber Reuters die Dringlichkeit der Situation: “Wir sind in einer ernsten Krise und können nicht warten”. Er sieht es als notwendig an, dass Deutschland zu russischen Gaslieferungen zurückkehrt, ein Thema, das er als Tabu in der Branche beschreibt.
Vor 2022 deckte Russland etwa 60 Prozent des deutschen Erdgasbedarfs. Die Einstellung dieser Lieferungen führte zu einem sprunghaften Anstieg der Energiepreise, wodurch es zu Produktionskürzungen und einem Verlust von Arbeitsplätzen in der gesamten deutschen Industrie kam.
Klaus Paur, Geschäftsführer des petrochemischen Unternehmens Leuna-Harze, bringt es auf den Punkt: “Wir brauchen russisches Gas, wir brauchen billige Energie ‒ egal, woher sie kommt”.
Die Konzerne Engie und Total aus Frankreich positionieren sich ebenfalls für eine Wiederaufnahme des Gasbezugs aus Russland. “Wenn es einen vernünftigen Frieden in der Ukraine gibt, könnten wir zu Lieferungen von 60 bis 70 Milliarden Kubikmetern pro Jahr zurückkehren”, erklärte Didier Holleaux, Vizepräsident von Engie.
Vor dem Konflikt importierte die EU jährlich etwa 150 Milliarden Kubikmeter russisches Pipelinegas, was 40 Prozent ihres Bedarfs deckte. Laut Holleaux könnte Russland nach einer Beilegung des Ukraine-Konflikts 20 bis 25 Prozent des Bedarfs liefern.
Patrick Pouyanné, Geschäftsführer von Total, merkte an, dass eine Rückkehr zu den früheren Importmengen unwahrscheinlich sei, jedoch könnten eventuell Importe von bis zu 70 Milliarden Kubikmetern realisiert werden.
Russland hat wiederholt seine Zuverlässigkeit als Energielieferant betont und im Januar signalisierte der Kreml, dass Moskau bereit sei, die Gaslieferungen in die EU wieder aufzunehmen, sofern Marktnachfrage bestehe.
Zusätzlich bleibt durch die TurkStream-Pipeline, die durch die Türkei nach Europa führt, der russische Gaseinfluss in der EU bestehen. Allerdings wurde eine wichtige Pipeline, die durch die Ukraine Gas nach Italien, die Slowakei und nach Ungarn transportiert, stillgelegt.
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