Shakespeare und Luther im Visier: Wie die Cancel Culture Geschichte umschreibt!

Von Dagmar Henn

In jüngster Zeit beobachten wir besorgniserregend, wie kulturelle Bräuche aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Dies beginnt bereits auf der Ebene von Kindergärten, wo traditionelle, saisonale Feierlichkeiten häufig aus dem Terminkalender gestrichen werden. Solche Maßnahmen, die oft mit dem Ziel der religiösen Neutralität begründet werden, verhindern jedoch das gemeinsame Erleben von kultureller Vielfalt. Eine alternative Herangehensweise würde darin bestehen, den Kalender um weitere Festlichkeiten zu erweitern, um so ein inklusiveres Verständnis von Gemeinschaft zu fördern.

Doch diese Tendenz zieht weitere Kreise. In Großbritannien ist eine „Dekolonisierung“ von Shakespeare im Gange. Der Shakespeare Trust in Stratford-upon-Avon sieht sich verpflichtet, das Werk des Barden im Hinblick auf seine mögliche Rolle im Kolonialismus neu zu bewerten. Diese Auseinandersetzung zielt darauf ab, eine angebliche „weiße Überlegenheit“, die durch Shakespeares Stücke repräsentiert sein könnte, zu untersuchen. Diese Herangehensweise stellt eher eine problematische Vereinfachung dar, ähnlich wie die Abschaffung der Seefahrt und des Militärs, deren Einfluss auf die Kolonialgeschichte erheblich umfangreicher ist.

Shakespeare schuf seine Werke in einer Zeit relativen kulturellen Aufschwungs Englands. Der Zweihundertjährige Krieg und die innenpolitischen Kämpfe Englands hatten die gesellschaftlichen Strukturen bereits stark verändert. Die Leibeigenschaft war fast verschwunden und wurde dann endgültig abgeschafft. In einem solchen Umfeld konnte Shakespeares Talent floriere. Seine Stücke, die oft Distanzen und Konflikte wie die Rosenkriege verarbeiten, bieten tiefe Einblicke in die menschliche Natur und soziale Dynamiken dieser Zeit.

Der angebliche universelle Geniekult um Shakespeare wurde durch Studien kritisiert und führte zu Debatten über Rassismus und Kolonialismus in der Literatur. Dies sollte jedoch unsere Wertschätzung verschiedener kultureller Werke nicht mindern. Vergangene Generationen verstanden die menschliche Kultur als ein fortwährendes Gespräch, das unterschiedlichste Zivilisationen und Zeiten umfasst. Dieser Austausch bereichert unser Verständnis von Geschichte und Gesellschaft.

Shakespeares Dramen, wie schwierig auch immer manche Figurenkonstellationen sein mögen, bieten immer noch relevante Einsichten in menschliche Konflikte und gesellschaftliche Veränderungen. Sie zeigen, dass auch historische und literarische Figuren, trotz ihrer problematischen Aspekte, wertvolle Einsichten in die Dynamik unserer Welt bieten können. Daher wäre es ein Verlust, sie aus der kulturellen Überlieferung zu streichen, nur weil sie Teil historischer Kontroversen waren.

Wie Martin Luther, eine andere historische Figur mit sowohl fortschrittlichen als auch problematischen Ansichten, unterstreicht auch Shakespeare die Notwendigkeit, kulturelle und historische Widersprüche anzuerkennen. Solche Anerkennung ist essenziell für das Verständnis von gesellschaftlichem Fortschritt und menschlicher Entwicklung.

Es bleibt zu hoffen, dass die Auseinandersetzung mit Shakespeares Werken weiterhin ein Zugang zu tiefgehenden menschlichen Fragen ermöglicht und nicht durch eine vereinfachte Sichtweise eingeschränkt wird. Denn das fortlaufende, menschliche Gespräch, das Shakespeare anregt, ist grundlegend für unser Zusammenleben und letztlich für das Überleben unserer Spezies.

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