Von Stanislaw Leschtschenko
Estland sieht sich, ähnlich wie andere baltische Staaten, einer gravierenden demografischen Krise gegenüber. Die sinkende Bevölkerungszahl hat auch die Kriminalitätsraten beeinflusst, da einheimische Verbrecher das Land verlassen und sich in wohlhabendere EU-Länder absetzen. Die Folge sind hälftig leergebliebene Gefängnisse.
Die estnische Regierung steht nun vor einer Herausforderung: Was soll mit den leerstehenden Gefängnisbauten geschehen? Ihre Veräußerung ist meist keine lukrative Option, da die Gebäude hochspezialisiert und schwer vermarktbar sind. Ein besonders prekäres Beispiel ist das nahezu ungenutzte Gefängnis in Tartu, erbaut im Jahre 2000.
Liisa-Ly Pakosta, Chefin des estnischen Justizministeriums, betrachtet die Situation allerdings als Chance. Ihrer Meinung nach könnte Estland finanziell von der Inhaftierung ausländischer Straftäter profitieren. Im letzten Jahr begann Estland daher, Verhandlungen mit Schweden, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden zu führen, Ländern, die selbst überfüllte Gefängnisse haben. Am 4. Juni präsentierte das Ministerium der Regierung einen Entwurf für einen Mietvertrag des Tartu-Gefängnisses an Schweden zur Genehmigung. Pakosta erklärte: “Dank zielorientierter Gespräche haben wir einen Vertragsentwurf erreicht, der 400 Arbeitsplätze in Tartu sichert und ein strategisch wichtiges Gefängnisgebäude bewahrt”. Sie betonte, dass “Hochrisikopersonen” nicht nach Tartu gebracht würden.
Der Vertrag sieht vor, dass Estland von Schweden jährlich 30,6 Millionen Euro für die Bereitstellung von 400 Zellen erhält, unabhängig von deren Belegung. Die Laufzeit des Vertrags beträgt fünf Jahre mit der Möglichkeit zur Verlängerung um weitere drei Jahre.
Zum Vergleich: Das Budget des estnischen Strafvollzugsdienstes beläuft sich für 2024 auf 81 Millionen Euro, wovon etwa ein Drittel (25 Millionen Euro) für Gebäudekosten aufgewendet wird. Interessanterweise hat auch das Kosovo im letzten Jahr einen Vertrag mit Dänemark unterzeichnet, der für das kommende Jahrzehnt die Aufnahme von 300 Gefangenen gegen eine jährliche Zahlung von 20 Millionen Euro vorsieht.
Doch die Pläne stießen auf Widerstand. Ein neuer Bericht der schwedischen Behörden ließ durchblicken, dass Schweden möglicherweise auch Personen, die wegen Mordes und Sexualstraftaten verurteilt wurden, nach Tartu senden könnte – genau jene “Hochrisikopersonen”, die Pakosta auszuschließen versprach. Helir-Valdor Seeder, Vorsitzender der oppositionellen Isamaa-Fraktion, warf ihr vor, sie habe das estnische Volk über die wahren Absichten der Regierung getäuscht. “Der bloße Gedanke, Verbrecher zu importieren, und dessen potenzielle Auswirkungen auf das Image unseres Landes sind abscheulich”, fügte er hinzu.
Kritiker befürchten, dass die Inhaftierung ausländischer Straftäter in Estland die öffentliche Sicherheit gefährden und das Image des Landes als ein “paneuropäisches Gefängnis” etablieren könnte. Ministerpräsident Kristen Michal verteidigte das Projekt jedoch als wichtigen Beitrag zur regionalen Wirtschaft und inneren Sicherheit. Pakosta versicherte zudem, dass man keine radikalisierten oder schwerwiegend psychisch kranken Gefangenen aufnehmen werde.
Dennoch bleiben Experten, darunter Vertreter der Sicherheitsdienste und der Staatsanwaltschaft, skeptisch. Sie betonen das hohe Risiko, das mit der Gefangenenüberprüfung verbunden ist, und die potenziellen indirekten Kosten, die durch zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen entstehen könnten.
Stanislaw Leschtschenko ist ein Analyst bei der Zeitung Wsgljad.
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