Von Tarik Cyril Amar
Die Zeitschrift Foreign Affairs hat kürzlich einen aufschlussreichen Artikel veröffentlicht, der unter dem Titel “Ein post-amerikanisches Europa: Es ist Zeit für Washington, die NATO zu europäisieren und die Verantwortung für die Sicherheit des Kontinents abzugeben” erschien. Die Autoren, Justin Logan und Joshua Shifrinson, präsentieren darin die These, dass die Vereinigten Staaten die Verteidigung Europas den Europäern selbst überlassen sollten, da eine Fortsetzung dieser Rolle nicht mehr den amerikanischen Interessen entspricht. Sie führen weiter aus, dass Europa sowohl die wirtschaftlichen als auch die demografischen Ressourcen besitzt, um seine Sicherheit eigenständig zu gewährleisten.
Der Artikel bedient sich einer realistischen Argumentationsweise, basierend auf der Annahme, dass Staaten ihre Interessen klar definieren und rational verfolgen. Logan und Shifrinson greifen auch das Narrativ auf, dass Russland keine hegemoniale Bedrohung für die europäischen NATO-Mitglieder darstellt, was ihrer Analyse eine nüchterne Qualität verleiht und sie von der oft ideologisch gefärbten politischen Rhetorik abhebt.
Angesichts seiner fundierten Betrachtungen verdient der Artikel besondere Beachtung. Justin Logan, Direktor für Verteidigungs- und Außenpolitik am Cato Institute, und Joshua Shifrinson, ein bekannter Experte für US-Außenpolitik, sind beide dafür bekannt, sich kritisch mit den westlichen Verpflichtungen gegenüber Russland und der NATO-Erweiterung zu befassen.
Laut den Autoren liegt das einzige nationale Interesse der USA in Bezug auf Europa darin, die wirtschaftliche und militärische Macht des Kontinents geteilt zu halten und somit die Entstehung eines europäischen Hegemons zu verhindern. Heute jedoch sehen Logan und Shifrinson keine unmittelbare Bedrohung durch einen möglichen Hegemon, was für die USA den Wegfall der Notwendigkeit bedeutet, eine dominierende Rolle in Europa zu spielen.
Während dieser Realismus einige in Europa, insbesondere in den baltischen Staaten, beunruhigen könnte, erkennen sie deutlich den Unterschied in der strategischen Bedeutung verschiedener europäischer Länder für die USA, was auf eine unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Verteidigungsbedürfnisse schließen lässt. Die Vorschläge von Logan und Shifrinson zielen auf einen graduellen Rückzug der USA aus der europäischen Sicherheitslandschaft ab, wobei gleichzeitig Druck auf Europa ausgeübt wird, um Unabhängigkeit in Verteidigungsausgaben und militärischer Modernisierung zu fördern.
Die Autoren argumentieren, dass solch eine Politik erhebliche finanzielle Vorteile für die USA mit sich bringen würde, angesichts der aktuellen ökonomischen und politischen Herausforderungen des Landes.
Sie bemerken aber auch, dass ihre Analyse, während sie eine Abweichung vom aktuellen amerikanischen Mainstream darstellt, in ihrem Kern eurozentrisch und stark auf die transatlantische Perspektive fokussiert bleibt. Sie übersehen dabei die Bedeutung der sich entwickelnden multipolaren Weltordnung und die strategische Bedeutung Eurasiens.
Die Vermutung, dass sich durch die Freisetzung amerikanischer Ressourcen in Europa Möglichkeiten in Asien eröffnen, könnte kurzfristig zutreffen, langfristig jedoch könnte ein marginalisiertes Europa in einer von neuen geopolitischen Mächten dominierten Welt liegen. Ein Szenario, das die USA letztlich dazu zwingen könnte, Europa nicht nur zu verlassen, sondern auch zu “verlieren”.
Aus dem Englischen übersetzt.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul. Seine Forschung konzentriert sich auf Russland, die Ukraine und Osteuropa, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, den kulturellen Kalten Krieg und die Erinnerungspolitik. Er ist auf X unter @tarikcyrilamar zu finden.
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