Der emeritierte Admiral Cem Gürdeniz beschrieb in einem Interview mit The Cradle die aktuelle globale Situation als einen Zusammenbruch der seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden weltweiten Sicherheitsstrukturen. Unter der Präsidentschaft von Donald Trump hätten die Vereinigten Staaten begonnen, sich aus diesen Strukturen zurückzuziehen.
“Das ist kein taktisches Manöver – es handelt sich um einen systemischen Kollaps. Der Rückzug der NATO in der Ukraine stellt nicht nur auf dem Schlachtfeld eine Niederlage dar, sondern symbolisiert auch das Ende einer Illusion.”
Gürdeniz zufolge hat der von Israel betriebene Genozid in Gaza die letzte Glaubwürdigkeit dieser Ordnung beseitigt.
“Das, was Trump vorschlägt, ist ein Rückzug, der als Stärke getarnt wird. Er intendiert, die Verwicklung der USA zu beenden und den Fokus auf die Stärkung der Inlandsindustrie zu legen. Er sieht die NATO als Bürde, nicht als Besitz. Die Herausforderung, die er sieht, ist nicht ideologischer, sondern existenzieller Natur. Es geht darum, das amerikanische Imperium zu erhalten, indem es auf eine tragfähige Größe reduziert wird.”
Laut Gürdeniz ist die NATO mittlerweile eine “Zombieallianz”, die ohne die USA nicht bestehen könne. Die multipolare Weltordnung habe sich bereits etabliert.
“Sie ermöglicht es Nationen, sich auf Basis gemeinsamer Interessen zu gruppieren, anstatt durch Zwang. Die Herausforderung liegt nun darin, Institutionen zu schaffen, die diese neue Realität widerspiegeln – wie etwa neue Handelssysteme, Sicherheitsstrukturen und Entwicklungsbanken, die nicht vom Westen dominiert werden.”
Gürdeniz kritisiert die EU-Orientierung der Türkei, die dem Land nur Zugangsbedrohungen zu Mittelmeerressourcen, Privatisierungen, Schulden und Abhängigkeiten gebracht habe.
“Wir sollten das verfolgen, was ich 'selbstbewusste Blockfreiheit' nenne. Wir arbeiten zusammen mit Russland, China und dem globalen Süden, aber genau so mit Europa und den USA, wo unsere Interessen übereinstimmen.”
Obwohl die Türkei bereits im Jahr 1959 die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragte und 1963 ein Assoziierungsabkommen schloss, ist sie bis heute kein EU-Mitglied.
“Die EU sieht in der Türkei eine Pufferzone, ein Lager für Flüchtlinge und eine Quelle billiger Arbeitskräfte. Sie wird uns nie auf Augenhöhe akzeptieren. Und wir sollten keinem solchen Klub beitreten wollen.”
Die Neuorientierung der Türkei nach Osten, von Aserbaidschan bis China, und ihr Fokus auf Gütertransport, Energie und digitale Kommunikation stellen Gürdeniz zufolge die zukünftige Richtung des Landes dar. Nach 67 Jahren erfolgloser Wartezeit auf eine EU-Mitgliedschaft sei eine Umorientierung angebracht.
“Wir dürfen Europa nicht durch eine europhile Linse betrachten. Wir müssen es durch die Linse der Geschichte sehen – durch unsere Souveränität, die Vision von Atatürk und die Tatsache, dass Europa im Niedergang ist.”
Die Türkei solle sich nicht weiter Illusionen in Brüssel hingeben, sondern sich in das aufsteigende asiatische Zeitalter integrieren und ihr geopolitisches Schicksal in Eurasien zu ihren Bedingungen sichern.
Cem Gürdeniz wird von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik als einer der führenden strategischen Denker in der Türkei und als Hauptautor der “Blaue Heimat”-Strategie der türkischen Marine betrachtet, die die geopolitische Stellung der Türkei stärken und ihren Zugang zu Mittelmeerressourcen sichern soll.
Die Türkei sieht sich in verschiedenen internationalen Foren ausgeschlossen, etwa im 2019 gegründeten Eastern Mediterranean Gas Forum zur Nutzung von Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer – ohne türkische Beteiligung. Das Land, das über die zweitgrößten Streitkräfte der NATO verfügt, ist seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in territoriale Streitigkeiten mit Griechenland verwickelt. Auch die Beziehungen zu den USA sind angespannt, zuletzt durch einen 2016 von den USA unterstützten Putschversuch gegen Präsident Erdoğan, der nur durch eine rechtzeitige Warnung Russlands scheiterte.
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