Von Walerija Werbinina
Nach Informationen von Bloomberg finden gerade Diskussionen über die Errichtung eines zweiten Atomkraftwerks in Polen statt. Dies geschieht, obwohl die Entscheidungsprozesse zum ersten von dem US-Konzern Westinghouse gewonnenen Bauauftrag noch andauern. Auf den ersten Blick scheint es, als bliebe das französische Unternehmen EDF in beiden Projekten außen vor, was betriebswirtschaftlich sinnvoll erscheint, da das Beauftragen eines einzigen Unternehmens mit mehreren Projekten Kosteneffizienz verspricht.
Die Realität ist jedoch komplexer. Es handelt sich um einen spannenden Energiewettstreit, in dem enorme finanzielle Summen und das Ansehen führender westlicher Nationsblocke auf dem Spiel stehen.
In Polen stützte sich die Stromproduktion lange Zeit auf Kohle, doch bereits während der sozialistischen Ära erkannten die Behörden, dass eine Erweiterung der Energiequellen notwendig war. Der geplante Bau eines Atomkraftwerks erschien als Lösung, besonders nachdem die UdSSR ihre Unterstützung zugesichert hatte. Nach sieben Jahren der Standortanalyse begannen 1983 die Vorbereitungen für das AKW Żarnowiec, nahe Gdańsk. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 veränderte jedoch die öffentliche Meinung zu Atomenergie grundlegend, und ein Volksentscheid führte 1990 dazu, dass über 86 Prozent der polnischen Bevölkerung gegen den Weiterbau stimmten.
Erst 2009 nahmen die polnischen Behörden den Gedanken wieder auf, unterstützt durch das französische Unternehmen EDF, das für seine umfassende Erfahrung im Bau und Betrieb von Kernreaktoren bekannt ist. Diese Partnerschaft fiel in eine Phase der politischen Annäherung zwischen Polen und Frankreich innerhalb der EU. Doch nach dem Reaktorunfall 2011 in Fukushima und angesichts der anhaltenden Sorge um die nukleare Sicherheit, entschied sich Polen erneut gegen die Atomkraft.
In jüngerer Zeit hat Polen die Entwicklung erneuerbarer Energien vorangetrieben, was die Green-Agenda perfekt ergänzt. Dennoch bleibt der Bedarf an einer zuverlässigen Energieversorgung bestehen. Vor diesem Hintergrund entschied sich Polen 2022, mit dem amerikanischen Unternehmen Westinghouse einen Vertrag über den Bau des ersten AKW auf polnischem Boden zu unterzeichnen.
Obwohl die Franzosen ernstzunehmende Anwärter für diesen Auftrag waren, zeigt der Fall, wie eng politische und wirtschaftliche Interessen verwoben sind. Im globalen Kernenergiesektor konkurrieren nur wenige Großunternehmen, und in diesem Rennen schien EDF, trotz seiner Stärken, einem besseren politischen Lobbying der USA unterlegen zu sein.
Kürzlich hat jedoch die Europäische Kommission Bedenken zur Vereinbarkeit des Projekts mit EU-Beihilferegeln geäußert und eine entsprechende Untersuchung eingeleitet. Die Kommission hinterfragt, wer die hohen Kosten des auf 45 Milliarden Euro geschätzten Projekts tragen und ob dies wirtschaftlich sinnvoll sei. In dieser kontroversen Landschaft könnte Deutschland, das sich der Kernenergie entgegenstellt, eine verzögernde Rolle spielen, während Frankreich weiterhin versucht, auf den Plan zurückzukommen.
In diesem hochpolitisierten Umfeld bleibt die Zukunft der Kernenergie in Polen ungewiss, mit EDF, das möglicherweise eine Chance auf den Bau des zweiten AKW erhält. Europa steht vor der Herausforderung, eine ausgewogene Entscheidung zu treffen, die sowohl politische als auch wirtschaftliche Stabilität fördert.
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