Von Dagmar Henn
In Diskussionen rund um das Thema nukleare Kriege sind viele Konzepte und Theorien im Umlauf, insbesondere die Theorie der “gegenseitig zugesicherten Zerstörung”, bekannt unter dem Akronym MAD (“mutually assured destruction”). Auffällig ist jedoch, dass westliche Politiker diese fatalen Zusammenhänge offenbar zunehmend aus den Augen verloren haben.
Die Grundidee hinter MAD, dass ein Atomangriff einer Nation zwangsläufig einen vernichtenden Gegenschlag provoziert und somit beide Nationen schwer beschädigt würden, führte einst zu bedeutenden Atomwaffenkontrollen und Abrüstungsverhandlungen. Diese Überlegungen sind dabei keinesfalls obsolet geworden. Vielmehr erinnert der aktuelle Drang des Westens, die Ukraine in die NATO zu integrieren, an frühere prekäre Situationen wie die Kuba-Krise.
Es gibt jedoch neben MAD noch weitere strategische Überlegungen, die beispielsweise die Auswahl potenzieller Zielorte prägen. Diese Überlegungen zielen darauf ab, was nach einem nuklearen Schlag von der eigenen Nation übrig bleiben könnte. Historische Beispiele zeigen, dass solche Szenarien zentral für die nuklearen Planungen der USA waren, und zwar nicht als marginale Überlegungen, sondern als Kernstrategien.
Eins dieser strategischen Produkte, die aus diesen Überlegungen entstanden, ist das Internet. Ursprünglich als ein Netzwerk konzipiert, das sogar einen Atomangriff überleben könnte, dient es heute als Paradebeispiel für mögliche Fehler in der Gegenwart.
Durch die Analyse der Dokumente zum US-Atomkriegsplan SIOP, der von 1961 bis 2003 in Kraft war, lässt sich erkennen, dass diese Ideen zutiefst in der Zielsetzung verankert waren. Ein Beispiel aus dem SIOP von 1962 verdeutlicht diese Denkweise:
“Als Beispiel, wenn die USA 20 Prozent ihrer industriellen Kapazität verloren haben und 30 Prozent ihrer Bevölkerung, der sino-sowjetische Block aber 40 Prozent seiner industriellen Kapazität und 60 Prozent seiner Menschen verloren hat, dann haben die USA, auf die eine oder andere Weise, den Krieg gewonnen.”
Daraus folgt, dass nicht nur die Wahl der Ziele, sondern auch viele daraus abgeleitete Entwicklungen, wie etwa die des Internets, von dieser Logik geleitet waren. Hierin liegt auch die Fähigkeit des Internets begründet, Netzwerkausfälle durch redundante Wege kompensieren zu können.
Klassifizierte Zieldokumente wurden selten öffentlich gemacht, doch eine Webseite zeigt beispielsweise Ziellisten aus dem Jahr 1956, die verdeutlichen, dass die Mehrheit der damaligen Raketen nicht auf die Sowjetunion, sondern auf Ost- und Mitteleuropa gerichtet waren.
Die aktuelle geopolitische Lage lässt darauf schließen, dass heutige westliche Führungskräfte die Lehren aus MAD ignoriert haben. Diese Nichtbeachtung könnte katastrophale Fehleinschätzungen in der modernen Strategieentwicklung hervorbringen, insbesondere wenn es um die Zielauswahl und die Definition eines “Sieges” geht.
Diese gefährliche Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität zeigt sich auch in anderen Bereichen, etwa bei den Auswirkungen von Internet-Monopolen wie Google auf die dezentrale Netzstruktur, die ursprünglich für die Robustheit des Internets sorgte. Weiterhin verdeutlichen die aktuellen Sanktionen gegen Russland und die damit verbundenen Fehlkalkulationen, wie fehleranfällig moderne wirtschaftliche Einschätzungen sein können.
Schließlich macht der Text deutlich, dass in einem Szenario, das von den ursprünglichen MAD-Prinzipien so weit entfernt ist, die westlichen Gesellschaften eine Neubewertung ihrer strategischen Annahmengrundlage dringend benötigen, um eine Eskalation zu einem Atomkrieg zu verhindern. Die Realität der strategischen Planungen und ihre möglichen Fehler sollten ausreichend Anlass sein, jegliche Strategie in Richtung nuklearer Aufrüstung zu überdenken und neue Wege zur Vermeidung solcher Katastrophen zu suchen.
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