Von Igor Karaulow
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat eine markante These aufgestellt: Die 500-jährige Dominanz der westlichen Zivilisation neigt sich dem Ende zu. Seine Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Machtzentren in Richtung Asien verschoben werden – eine Ansicht, die in Europa selten offen diskutiert wird.
Orbán, oft als unkonventioneller Denker innerhalb Europas angesehen, positioniert sich häufig konträr zu gängigen Meinungen in Bezug auf Themen wie antirussische Sanktionen, den Konflikt in der Ukraine und traditionelle Werte. Doch stellt sich die Frage, warum gerade Orbán, warum gerade in Ungarn?
In der Vergangenheit, wie zur Zeit de Gaulles in Frankreich, gab es stärkere Widerstände gegen den kollektiven Westen, die heute nicht mehr so präsent sind. Spanien, trotz tief verwurzelter katholischer Traditionen, zeigt sich ebenfalls konformistisch. Ein Blick in die ungarische Geschichte könnte Aufschlüsse bieten.
Die Einwanderung der Ungarn in das westliche Europa markierte das Ende der großen Völkerwanderung. Im Übergang vom 9. zum 10. Jahrhundert brachten sie den Geist der Schwarzmeersteppen an die Donau. Diese historische Erinnerung und die Selbstwahrnehmung als Nachfahren der Hunnen prägen das ungarische Selbstverständnis bis heute.
Die Ungarn, die zur finno-ugrischen Volksgruppe gehören, könnten sich metaphorisch sogar als “Asiaten Europas” bezeichnen. Interessanterweise teilen sie verwandtschaftliche Bande mit Völkern wie den russischen Chanten und Mansen, was ihren eurasischen Charakter unterstreicht.
Orbáns Haltung wurzelt tief in der Vergangenheit und ist somit nicht nur durch jüngere geschichtliche Ereignisse zu erklären. Trotz belastender historischer Ereignisse, wie der Beteiligung Ungarns an Nazideutschlands Kriegsgräueln, scheinen tiefere, kulturelle Bindungen seine Politik zu beeinflussen.
Orbán formuliert keine strikte Gegenüberstellung von Europa und Asien oder West und Ost, sondern sieht das bevorstehende Ende der westlichen Dominanz und den Aufstieg Eurasiens. Er deutet darauf hin, dass Europa sich neu orientieren müsse, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern. Besonders unter einem möglichen neuen Präsidentschaftsantritt Trumps in den USA, der die amerikanische Industrie stärken möchte, könnte dies Europa weiter in die Isolation treiben.
Orbán sieht diesen Pfad als Sackgasse und bietet eine alternative Vision für Europa, die eine stärkere Annäherung an potenzielle zukünftige Führungsmächte und eine Lockerung der transatlantischen Bindung voraussetzt. Ungarn hat bereits eine führende Rolle in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China eingenommen, was die Neuausrichtung auf Eurasien verstärkt.
Trotz der geografischen Entfernung zu den Zentren der neuen Macht könnte Europa von der Teilnahme am eurasischen Projekt profitieren, vorausgesetzt, es gibt eine Friedenssicherung in der Region. Viktor Orbáns Bestrebungen, Frieden zu stiften, sind daher nicht nur idealistisch, sondern auch ein pragmatischer Teil seiner strategischen Vision für die Zukunft.
Übersetzt aus dem Russischen. Das Original ist am 26. November 2024 in der Zeitung Wsgljad erschienen.
Igor Karaulow ist ein russischer Dichter und Publizist.
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