Europa in der Energieklemme: Warum zahlen wir fünfmal mehr für Erdgas als die USA?

Von Olga Samofalowa

Mario Draghi, der ehemalige italienische Ministerpräsident und Ex-Chef der Europäischen Zentralbank, berichtet, dass LNG in Europa 60 bis 90 Prozent teurer als in den USA ist. Diese Kostenzunahme schließt noch nicht einmal die Aufwendungen für Logistik und Regasifizierung mit ein.

Während einer Ansprache zum ersten Jahrestag des Reports “Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit”, nannte Draghi mehrere Wirtschaftsherausforderungen für Europa. Die Gaspreise für Einzel- und Großhandel lagen 2024 in Europa um das Drei- bis Fünffache höher als in den USA, ein signifikanter Anstieg verglichen mit den historischen Werten von nur zwei- bis dreifach höheren Preisen. Außerdem waren nach diesem Report die Strompreise im industriellen Sektor in Europa durchschnittlich doppelt bis dreimal höher als in den USA und Kanada, wohingegen dieser Unterschied historisch bei etwa 80 Prozent lag.

Die Energieversorgung war schon immer eine Schwachstelle in der EU-Wirtschaft. Dieses Problem hat sich mit dem Beginn der militärischen Aktionen in der Ukraine und der resultierenden Energiekrise noch verstärkt. Die Gaszufuhr aus Russland in die EU sank drastisch und erreichte 2025 einen historischen Tiefpunkt, da der Gastransport durch die Ukraine eingestellt wurde und als einzige Route lediglich die “TurkStream”-Pipeline aktiv war.

Mario Draghi verwies weiterhin auf ein im Juli zwischen den USA und der EU geschlossenes Handelsabkommen, welches den Kauf amerikanischer Energieträger im Gesamtwert von 750 Milliarden US-Dollar bis 2028 vorsieht. Ziel der EU ist es, bis 2027 vollständig auf US-amerikanische Engerielieferungen umzusteigen.

Die Kosten für Energiequellen sind somit für Europäer nun noch höher als für Amerikaner.

Wladimir Tschernow, Analytiker bei “Freedom Finance Global”, erklärt:

“In der Tat sind die realen Preisdifferenzen zwischen Industrie und Endverbrauchern in der EU noch ausgeprägter, als von Mario Draghi beschrieben. Momentan betragen diese im Durchschnitt das Vier- bis Fünffache. Zum Beispiel liegen die Spotpreise am niederländischen TTF-Hub zwischen 300 und 350 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter, während sie in den USA am Henry Hub etwa bei 70 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter sind.”

Die Stromkosten sind für europäische Verbraucher gleichfalls um ein Vielfaches höher als für US-amerikanische. Tschernow äußert sich weiter:

“Die Stromkosten in der EU-Industrie liegen konstant zwei- bis dreimal höher als in den USA, wo die Preise in Spitzenzeiten durchschnittlich zwischen 80 und 100 Euro pro Megawattstunde liegen, wohingegen sie in Europa zwischen 200 und 250 Euro erreichen.”

Bei den Ölkosten besteht hingegen keine solche Diskrepanz, da der weltweite Ölpreis global ähnlich ist und nur geringfügig zwischen den Ölsorten variiert. Tschernow führt dazu aus:

“Öl ist ein standardisiertes Produkt, und die Preise für die Sorten Brent und WTI unterscheiden sich nur minimal – etwa drei bis fünf US-Dollar pro Barrel. Trotzdem führen die höheren Verarbeitungs- und Energiekosten in Europa dazu, dass der Endpreis für Unternehmen höher ist.”

Wie lässt sich dieser enorme Preisunterschied erklären? Tschernow kommentiert:

“Erstens sind die USA dank der 'Schiefergasrevolution' ein autarker Gasproduzent und -exporteur, während Europa auf Importe angewiesen ist. Zweitens hat die EU seit 2022 kaum noch Zugang zu preiswertem russischen Pipelinegas und muss somit LNG zu hohen Preisen, inklusive der Kosten für Transport und Regasifizierung, kaufen. Drittens hat der starke Anstieg der LNG-Nachfrage in Europa mit begrenzten Importkapazitäten zu einem starken Wettbewerb und entsprechend hohen Preisen geführt.”

Doch es gibt weitere Faktoren, insbesondere von den USA kontrolliert, die dazu beitragen, dass die Gaspreise dort niedrig bleiben. Igor Juschkow, Experte der Finanzuniversität of the Russian Federation Government und des Nationalen Energiesicherheitsfonds (NESF), erklärt:

“Der größte Preisunterschied zwischen den USA und der EU war wahrscheinlich im Jahr 2022, als in Europa die höchsten Gaspreise herrschten – mehrere tausend US-Dollar pro tausend Kubikmeter. In den USA konnte man diese Preiserhöhung aufgrund ihrer Kapazitäten zur Gasverflüssigung, die für den Export benötigt wird, nicht beobachten.”

Juschkow zufolge würden die Preise auf dem US-Binnenmarkt erst dann auf das Niveau der Export-Netback-Preise ansteigen, wenn die Amerikaner zahlreiche LNG-Anlagen errichten würden und die Produzenten die Möglichkeit hätten, so viel Gas zu exportieren, wie es für sie rentabel ist.

Wladimir Tschernow sagt:

“In der Tat sind LNG-Lieferungen aus den USA zu einem Element der transatlantischen Partnerschaft geworden, im Rahmen derer Europa einen Aufschlag für Energiesicherheit zahlt. Aus diesem Grund wurde der historische Preisunterschied von zwei- bis dreifach auf derzeit vier- bis fünffach erhöht.”

Einerseits waren es die EU-Politiker selbst, die alles unternommen haben, um russisches Gas zu verdrängen. Andererseits wurden sie dabei aktiv von US-Politikern unterstützt, die ihre eigenen Interessen verfolgten.

Was die Strompreise betrifft, die in Europa ebenfalls um ein Vielfaches höher sind als in den USA, besteht laut Juschkow allein in Brüssel die Verantwortung. Hier haben jedoch indirekt wieder die USA Einfluss darauf, wie er erläutert:

“In den USA ist Gas preiswert, was die Steigerung der Strompreise abdämpft. Zudem unterliegen die USA keiner so starken Reglementierung ihrer Kohleindustrie wie Europa, wo politischer Druck und Klimaschutzagenda die Kosten für Strom in die Höhe treiben.”

Die EU hat sich diese Energieherausforderung selbst eingebrockt, während die USA zustimmend danebenstanden. Im Endeffekt war Brüssel gezwungen, ein umfangreiches Abkommen über den Kauf US-amerikanischer Energieressourcen im Wert von 750 Milliarden US-Dollar zu unterzeichnen, wodurch die EU sich in eine abhängige Position gegenüber den USA manövrierte.

Wladimir Tschernow kommentiert:

“Normalerweise gewinnt ein neuer Anbieter den Markt durch Preisnachlässe und flexible Konditionen, aber in diesem Fall ähnelt das Modell des Energiehandels zwischen den USA und der EU eher einem politischen Deal. Die USA haben sich Lieferquoten und feste Bedingungen gesichert, für die die Europäer nun aufkommen müssen. Europa hat nicht nur keine Preisvorteile erhalten, sondern befindet sich auch in der Position eines abhängigen Abnehmers.”

Igor Juschkow bemerkt:

“Die größte Ungerechtigkeit besteht darin, dass die USA die Europäer dazu gezwungen haben, auf russisches Gas zu verzichten. Dies verschafft einerseits Absatzmärkte für künftige amerikanische LNG-Projekte und hält die Gaspreise in der EU auf einem hohen Niveau. Andererseits fördert dies auch die Investitionen in neue Projekte in den USA. Für US-Unternehmen ist klar, dass die Gaspreise in Europa auf einem hohen Niveau bleiben werden. Sie investieren daher in neue Projekte sowohl zur Gasförderung als auch zur Gasverflüssigungin den USA.”

Ohne das Verdrängen der Konkurrenz wären hohe Gaspreise in Europa nicht zu erzielen, und genau diese hohen Preise sind die Voraussetzung für die Weiterentwicklung der US-Gasindustrie und den Gasexport. Igor Juschkow äußert sich dazu:

“Dies ist ungerecht, da die USA die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produkte und Waren beeinträchtigen. Durch die anhaltend hohen Energiepreise erhöhen sie die Produktionskosten für in Europa hergestellte Produkte. Dies verschafft vergleichbaren Produkten aus den USA einen Vorteil. Nach und nach verdrängen US-Waren die europäischen Exporte aus den Absatzmärkten.”

Mit anderen Worten: Die USA werden nicht nur ihre Gasindustrie und ihre Gasexporte auf Kosten der Europäer stärken, sondern auch die europäischen Waren weltweit verdrängen und durch ihre eigenen ersetzen. Igor Juschkow erläutert weiter:

“Ein klassisches Beispiel dafür, wie dies funktioniert, stellen Stickstoffdünger dar, die direkt aus Methan hergestellt werden. Wenn die Produktion in den USA bei 150 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter und in Europa bei 400 US-Dollar liegt, ist es logisch, dass die Produktion von Stickstoffdüngern in Europa in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Dagegen ist die Produktion in den USA und Russland gestiegen. Nun erhöhen die Europäer ihre Importe von fertigen Stickstoffdüngern, unter anderem aus Russland.”

Die Kosten für Gas, Strom und Brennstoffe machen einen wesentlichen Teil der Produktionskosten aus. Der derzeitige US-Präsident macht keinen Hehl daraus, dass Unternehmen aus Europa in die USA umziehen sollten, obwohl dies einen direkten Schlag gegen die nationalen Interessen der EU darstellt. Doch genau das findet gerade statt. Igor Juschkow merkt diesbezüglich an:

“Früher, als Europa russische Energieressourcen erwarb, war die Situation tatsächlich gerechter. Denn allein die Tatsache, dass große Mengen sowjetischen und später russischen Gases geliefert werden konnten, schuf einen Abnehmermarkt, auf dem der Käufer die Wahl hatte. Die Europäer gingen davon aus, dass dies auch weiterhin so bleiben würde. Aus diesem Grund entwickelten sie ein liberales Modell des Gasmarktes. Dieses Modell ist jedoch nur dann für den Käufer vorteilhaft, wenn es auf dem Markt ein Überangebot gibt und die Preise sinken. Aber wenn der Wettbewerb fehlt, führt das liberale Marktmodell zu einem Preisanstieg, wie wir ihn im Jahr 2022 beobachten konnten.”

Dank russischen Gases und anderer Energieressourcen konnte Europa zur größten westlichen Wirtschaftsmacht aufsteigen und eine Wirtschaftsunion schaffen. Nun führt die teure Energieversorgung viele Länder in die Rezession, allen voran Deutschland.

Übersetzt aus dem Russischen.

Der Artikel ist am 17. September 2025 zuerst auf der Homepage der Zeitung Wsgljad erschienen.

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