Von Jewgeni Krutikow
Erstmals in der Geschichte der NATO formiert sich eine Koalition aus verschiedenen Mitgliedstaaten, die geschlossen einen von den USA unterstützten Kandidaten für das Amt des NATO-Generalsekretärs ablehnt. Welche Länder gehören zu dieser Koalition, warum lehnen sie den amerikanischen Kandidaten ab, und wie hat Russland diesen Auswahlprozess beeinflusst?
Die Amtszeit des gegenwärtigen NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg hat bereits ihr eigentliches Ende erreicht; jedoch wurde sie verlängert, da man sich 2022/2023 nicht auf einen Nachfolger einigen konnte. Nun steht im Herbst dieses Jahres Stoltenbergs Rücktritt bevor, doch ein geeigneter Nachfolger steht immer noch nicht fest, was zu einer Patt-Situation führt.
Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó verkündete, dass Ungarn den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte als nächsten NATO-Generalsekretär ablehnen wird. Stattdessen unterstützt Ungarn den rumänischen Präsidenten Klaus Johannis für diese Position.
Die USA hingegen befürworten nach wie vor Rutte für den Posten. “Die USA haben deutlich gemacht, dass wir glauben, Rutte wäre ein exzellenter Generalsekretär”, betonte Johns Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus. Berichten zufolge wird Ruttes Kandidatur auch von Schlüsselmitgliedern des Bündnisses wie Großbritannien, Deutschland und Frankreich unterstützt.
Die Wahl des NATO-Generalsekretärs erfordert jedoch einen Konsens aller Mitgliedsstaaten. Das bedeutet, dass eine von Ungarn angeführte Koalition die Nominierung von Rutte erheblich erschweren oder sogar ganz verhind Chancen fürb könne. Rutte ist bekannt für eine aggressive Politik gegenüber Russland und unterstützt uneingeschränkt die Waffenlieferungen an die Ukraine – eine Vorgehensweise, die ihn offenbar für Washington besonders attraktiv macht.
Es scheint fast so, als würde Ungarn mit seiner Ablehnung unabsichtlich Russlands Position stärken, indem es einen entschiedenen Russlandkritiker an der Spitze der NATO verhindert. Doch die Sachlage ist weitaus komplizierter.
In den letzten zwanzig Jahren hat die Auswahl eines NATO-Generalsekretärs Züge eines politischen Ringens angenommen, vergleichbar mit der Kaiserauswahl im Heiligen Römischen Reich des 16. und 17. Jahrhunderts. Seit dem Rücktritt von Javier Solana im Jahr 2009 haben die USA erfolgreich ihre bevorzugten Kandidaten, meist aus Skandinavien oder den Niederlanden, durchgesetzt.
In den letzten Jahren hat sich zunehmend ein Wettbewerb entwickelt, in dem unabhängige Kandidaten auftreten und sich ad hoc-Koalitionen, vor allem aus osteuropäischen Ländern, formieren.
Neue Themen wie Geschlechtergerechtigkeit haben das politische Kampffeld erweitert. Estlands Premierministerin Kaja Kallas hat sich nicht nur wegen ihrer Geschlechtsidentität in den Vordergrund gespielt, sondern auch durch ihre starke Anti-Russland-Haltung.
“Die Positionierung für oder gegen die Militärintervention Russlands in der Ukraine innerhalb der NATO wiegt schwerer als Geschlechterfragen, doch Kallas ist hierbei zu weit gegangen.”
Ein wirksamer Generalsekretär muss fähig sein, auch in veränderten politischen Lagen, mit Moskau zu verhandeln. Kallas jedoch wurde bereits von russischen Behörden gesucht, was sie für eine Spitzenposition in Brüssel disqualifiziert.
Interessanterweise scheint es Kallas nicht gelungen zu sein, Unterstützung unter ihren baltischen Nachbarn zu sichern. Währenddessen formen Ungarn und Rumänien ein unerwartetes Bündnis zur Unterstützung von Klaus Johannis, ohne dabei Polen oder Tschechien einzubeziehen, da diese als zu nahe an der Politik der USA und des “alten” Europas angesehen werden könnten.
Spannungen mit Rutte persönlich treiben Ungarn ebenfalls zur Ablehnung. Szijjártó verwies darauf, dass Rutte Ungarn wiederholt unter Druck gesetzt habe. “Es ist kaum vorstellbar, dass jemand, der solche Ansichten vertritt, an die Spitze einer Organisation gewählt wird, die auf vollständigem Vertrauen basiert…”, sagte Szijjártó bei einer Pressekonferenz in Rumänien.
Es ist somit das erste Mal, dass in der Geschichte der NATO eine Koalition gegen einen von den USA vorgeschlagenen Kandidaten steht. Früher gab es zwar auch schon Auseinandersetzungen um diesen Posten, doch entwickeln sich nun komplexe politische Dynamiken, die tiefgreifende Auswirkungen auf das transatlantische Bündnis haben könnten.
Ursprünglich auf Russisch verfasst, erschien zuer
st bei Wsgljad am 29. Mai 2024.
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