Anora, eine Escort-Dame usbekisch-amerikanischer Abstammung, beherrscht etwas Russisch, was ihr Iwan, den Sohn eines russischen Oligarchen, als Kunden einbringt. Iwan, reich und charmant, verliebt sich in die attraktive junge Frau und heiratet sie trotzt der Entgegnung seiner einflussreichen Eltern. Diese schicken daraufhin russische Gangster – ebenfalls charmant und charismatisch –, um ihren Sohn zur Vernunft zu bringen. Das Ergebnis ist ein Film voller Liebe, ein Roadmovie, reich an russischen Flüchen und geprägt durch das Charisma russischer und armenischer Schauspieler. Kurzum beschreibt dies den Film “Anora” von Sean Baker, einem amerikanischen Regisseur, der kürzlich mit dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes für Aufsehen gesorgt hat.
Die Nachricht darüber ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich: Ein renommierter Hollywood-Regisseur widmet sich russischen Charakteren, setzt russische Schauspieler ein, die in Russland aktiv sind, nutzt die Expertise eines russischen Beraters und bringt den Film auf das renommierte Filmfestival in Cannes, wo er nicht nur gezeigt, sondern auch ausgezeichnet wurde. Die Zeitung Iswestija kommentiert:
“Der Film wurde schon als moderne russische Aschenputtel-Geschichte bezeichnet. Baker verriet, er habe seit 15 Jahren den Wunsch gehabt, einen Film über die russischsprachige Gemeinschaft in Brighton Beach und Coney Island zu drehen. Er hat darauf geachtet, dass die Dialoge lebendig sind und lokalen Slang sowie Witze enthalten. Ein russischer Berater half dabei, das Drehbuch anzupassen. ‘Er war großartig, unser Script Supervisor. Er übersetzte die Teile des Drehbuchs, die für unsere russischen und armenischen Schauspieler gedacht waren. Ich hatte viele Leute aus der Crew, die verfolgten, ob das Drehbuch funktioniert. Die muttersprachlichen Schauspieler, denen ich mein Vertrauen schenkte, unterstützten mich immens’, sagte Baker.”
Dass ein amerikanischer Regisseur derart über eine russische Thematik spricht, klingt fast, als wären wir im Jahr 2010 und nicht 2023. Kann so etwas heute noch gelingen?
Offenbar ja, denn das Publikum hat den Film außerordentlich positiv aufgenommen. Fachpublikationen zufolge erhielt “Anora” bei seiner Vorstellung Beifall von bis zu zehn Minuten. Baker zeigte sich überwältigt von den durchweg positiven Kritiken und dem Lob für die russischen Schauspieler. Besonders Mark Eidelstein, der Iwan darstellt, wurde als “russischer Timothée Chalamet” gefeiert, während Juri Borissow als einer der Gangster gelobt wurde. Die Zeitung Iswestija bemerkte:
“Es ist bemerkenswert, ein vollständiges russisches Schauspielensemble beim bedeutendsten Filmfestival der Welt zu sehen, ohne dass ihnen nahegelegt wurde, sich ihrer Herkunft zu schämen. Das Festival zeigt, dass der kulturelle Dialog fortdauert, trotz seiner offensichtlichen Fragilität.”
Die Fragilität dieses kulturellen Austauschs wird jedoch durch Aktionen proukrainischer Aktivisten betont, die aufgrund des Erfolgs von “Anora” alarmiert sind. Sie sehen es als Affront an, bedenkt man ihren zweijährigen Versuch, die russische Kultur zu marginalisieren. Besonders verärgert sind sie darüber, dass “Anora” die Russen zwar als ruppige Typen darstellt, jedoch nicht so, wie es die ukrainische und angelsächsische Propaganda vehement darstellt. Der politisch brisante Film “Invasion” über den ukrainischen Widerstand wurde in Cannes nicht annähernd so gefeiert wie “Anora”. Dies zeigt, dass trotz politischer Spannungen Kunst und universelle Werte oft triumphieren. So ist es in Filmmärchen und in der Realität.
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