Von Rüdiger Rauls
Eingeschränkte Souveränität
Trotz der Unterstützung durch die russische Luftwaffe und den Iran war es der syrischen Regierung unter Baschar al-Assad nur teilweise gelungen, die Bedrohung durch diverse militärische Fraktionen seit Mitte der 2010er Jahre zurückzudrängen. Dennoch konnte Damaskus die volle Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet nicht wiedererlangen. Im Norden errichteten türkische Truppen einen sogenannten Sicherheitskorridor auf syrischem Territorium, um das Vordringen der kurdischen Einheiten zu blockieren. Der Süden blieb unter der Kontrolle von Anti-Assad-Milizen rund um die Städte Dara und at-Tanf. Große Teile Nordostsyriens entlang der irakischen Grenze standen unter kurdischer Selbstverwaltung, während islamistische Rebellen die Gebiete um Idlib in der Nähe von Aleppo besetzt hielten, unterstützt von ausländischen Kräften.
Die größte Herausforderung stellte stets Idlib dar, direkt vor den Toren Aleppos gelegen und somit eine erhebliche strategische Bedrohung. Aktuelle Ereignisse offenbaren, wie von dort aus die Verbindung zwischen der Hauptstadt und den wichtigen Küstenhäfen unterbrochen werden konnte. Die unwegsame Landstruktur und Unterstützung durch die Türkei sowie internationale Hilfen verhinderten, dass die syrische Armee dieses Gebiet erobern konnte. Idlib verblieb als dauerhafter Störfaktor und beständige Bedrohung, durch westliche Mächte am Leben gehalten.
Der Vorstoß von Truppen aus Idlib kam überraschend, nicht nur für die globale Öffentlichkeit. Schnell machten Gerüchte über eine US-amerikanisch-israelische Verschwörung die Runde, obwohl handfeste Beweise dafür fehlen. Jede Verschwörung erfordert jedoch Akteure, die bereit sind, ihr Leben dafür zu riskieren.
Die 1.000 illegal in Syrien stationierten US-Soldaten unterstützten die Kurden mit Waffen und anderer Hilfe, wie die Asia Times berichtet. “Die Syrischen Demokratischen Kräfte ist eine von den USA finanzierte kurdische Gruppe”. Obgleich die Vorbereitung einer Invasion durch westliche Mächte schwer nachweisbar bleibt, spielte die Türkei unbestreitbar eine erhebliche Rolle in den Geschehnissen.
Begrenzte Gegenwehr
Russland schien von diesen Entwicklungen ebenso überrascht, seine Aufmerksamkeit womöglich durch den Ukraine-Krieg abgelenkt. Es gibt auch Berichte, dass “China vom raschen Fall Assads überrascht wurde”, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert. Trotz Warnungen des iranischen Geheimdienstes über Monate hinweg, scheint der syrische Nachrichtendienst diese Entwicklungen nicht wahrgenommen zu haben. Trotz erheblicher Waffen- und Munitionslieferungen aus der Türkei, bildeten sich islamistische Gruppierungen wie Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) unter Führung von Abu Mohammed al-Dschaulani, die die Offensive auf Aleppo vorbereiteten.
Obwohl die syrische Armee Kampfabschnitte verließ und Waffen zurückließ, weist das Regime darauf hin, dass man die Zivilbevölkerung schützen wollte. Doch auch außerhalb der bevölkerungsreichen Gebiete unterblieb der Widerstand. Nach über zehn Jahren Konflikt und westlichen Sanktionen war das Land erschöpft. Der Botschafter Syriens in Russland, Baschar al-Dschaafari, zitiert in der FAZ den Mangel an Unterstützung innerhalb der Gesellschaft und Armee als Grund für den schnellen Zusammenbruch des Systems.
Fortbestehende Konflikte
Die Zukunft Syriens bleibt ungewiss. Trotz Assads Abgang sind viele grundlegende Probleme ungelöst, darunter ethnische Spannungen und Konflikte zwischen verschiedenen religiösen Gruppen, die während des arabischen Frühlings durch westlichen Einfluss eskalierten. Die westlichen Sanktionen und die daraus resultierende wirtschaftliche Schwäche, zusammen mit ausländischer Besetzung und der Kontrolle wichtiger Ölquellen durch die USA, verkomplizieren die Situation weiter.
Die Behauptung, dass Amerikas Unterstützung für die Kurden enden könnte, bleibt ungewiss; die US-Stützpunkte könnten eine erneute Machtausdehnung im Nahen Osten bedeuten. Die Rolle der Türkei und der verbleibenden Rebellen sind weitere Unsicherheitsfaktoren, während die betroffene Bevölkerung zusehends unter den schnellen politischen Veränderungen leidet.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor mit einem Blog zur politischen Analyse.
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