Von Pierre Lévy
In Wien ist Anfang dieses Jahres eine dramatische politische Entwicklung in Fahrt gekommen. Um deren Tragweite zu verstehen, müssen wir drei Monate zurückblicken. Am 29. September 2024 lösten die österreichischen Wähler ein politisches Erdbeben aus: Sie rangierten die als rechtsextrem betrachtete FPÖ mit 28,9 Prozent der Stimmen an die Spitze. Dieses Ergebnis – ein Anstieg um 12,7 Prozentpunkte gegenüber 2019 – ist das stärkste seit der Gründung der Partei im Jahr 1955. Zuvor hatte die FPÖ bereits bei den Europawahlen am 9. Juni mit 25,4 Prozent einen bedeutenden Sieg errungen.
Die Wahlkampagne der FPÖ konzentrierte sich auf drei Hauptthemen. Die Bekämpfung der Einwanderung stand im Vordergrund, einschließlich Forderungen nach der Abschaffung des Asylrechts, dem Stopp der Familienzusammenführung und “Remigration”. Diese Positionen fanden großen Anklang, bedenkt man, dass Österreich innerhalb eines Jahrzehnts prozentual mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als andere europäische Länder.
Ein weiteres zentrales Anliegen der FPÖ war die wirtschaftliche Situation des Landes. Viele Bürger äußerten Unmut über die steigende Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent (laut offiziellen Daten für 2024), eine Inflationsrate, die 2023 auf 7,7 Prozent kletterte, und schleppendes Wirtschaftswachstum.
Darüber hinaus reagierten viele Wähler positiv auf ein drittes Thema: die Forderung nach Wiederherstellung friedlicher Beziehungen zu Russland, was vor allem die Fortsetzung der Gasimporte aus diesem Land einschloss.
Parteichef Herbert Kickl betonte zudem die Wichtigkeit der traditionellen Neutralität Österreichs. Er machte die EU und die NATO für den Krieg in der Ukraine verantwortlich und kritisierte deren Politik als “desaströs, heuchlerisch” und gefährlich eskalierend. Des Weiteren forderte er, den Waffentransit aus anderen EU-Ländern durch Österreich in die Ukraine zu stoppen und plädierte dafür, dass die Ukraine niemals NATO-Mitglied wird.
Nach dem Wahlerfolg der FPÖ versuchte die etablierte politische Klasse – anscheinend unter stiller Ermutigung aus Brüssel – sofort, Kickl daran zu hindern, Bundeskanzler zu werden. Die konservative ÖVP und die oppositionellen Sozialdemokraten (SPÖ) begannen Gespräche über eine “Große Koalition”, obwohl beide Parteien bei den Wahlen große Einbußen hinnehmen mussten. Die ÖVP fiel auf 26,3 Prozent und die SPÖ erreichte mit 21 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Ein angedachtes Bündnis hätte nur eine hauchdünne Mehrheit gehabt.
Zwischen den politischen Fraktionen kam es zu langwierigen Verhandlungen, die letztlich scheiterten. Die liberalen NEOS zogen sich zurück, da die Sozialdemokraten einer Rentenreform nicht zustimmen wollten, und die Konservativen brachen die Gespräche wegen Unstimmigkeiten über Steuererhöhungen ab.
Der damalige konservative Kanzler Karl Nehammer trat zurück, und ÖVP-Chef Alexander Schallenberg übernahm interimsmäßig die Regierungsführung. Das spektakulärste Ereignis war jedoch, dass der Präsident Herbert Kickl beauftragte, eine neue Regierung zu bilden – eine Kehrtwende, da Kickl als der radikalste in seiner Partei gilt.
Letztendlich zwang das Scheitern, eine Anti-FPÖ-Koalition zu bilden, den neuen ÖVP-Chef, Gespräche mit Kickl über eine mögliche Regierungsbildung zu führen, obwohl das vor kurzem noch undenkbar schien. Ein ÖVP-FPÖ-Bündnis wäre zwar nicht neu, aber diesmal wäre die FPÖ in der dominanteren Rolle.
Nun steht eine mögliche Annäherung Österreichs an den “prorussischen” Viktor Orbán bevor, eine Entwicklung, die in Brüssel Besorgnis erregt. Die FPÖ könnte gestärkt aus Neuwahlen hervorgehen, sollte keine Einigung erzielt werden. Dies würde den politischen Status quo der EU weiter herausfordern, wo traditionell zwei oder drei Parteien abwechselnd regieren.
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