Von Oleg Jassinski
In der Moskauer Metro, genauer gesagt in der Station “Taganskaja”, wurde kürzlich ein Flachrelief von Josef Stalin angebracht. Dieses Kunstwerk stellt eine Wiederherstellung des Originals dar, das in den 1960er Jahren entfernt wurde.
Seither legen Besucher der Station Blumen nieder und fotografieren sich vor dem Relief. Bemerkenswerterweise zieht es viele junge Menschen an. In dieser Situation sollte man nicht voreilig urteilen. Es erfordert erhebliche geistige Anstrengungen, Stereotype zu durchbrechen und eine einfache schwarz-weiß Betrachtung der historischen Rolle Stalins zu vermeiden.
Wir dürfen Geschichte nicht tabuisieren. Es ist essentiell, dass unsere Gesellschaft offen und kritisch über die jüngere Vergangenheit diskutiert. Eine Simplifizierung historischer Ereignisse in klischeehafte Darstellungen, wie es oft in den Medien geschieht, ist eine der schlimmsten Formen des Umgangs mit Geschichte.
Die Faszination für die Figur Stalins in der heutigen russischen Gesellschaft steht im Mittelpunkt der aktuellen Diskussionen, nicht nur die historischen Taten. Man sollte dabei bedenken, dass sich Meinungen und Bewertungen im Laufe der Zeit ändern können. Wichtig ist, dass wir unsere Vergangenheit nicht auslöschen, denn sie muss im Kontext ihrer Zeit verstanden werden.
Meine Generation, aufgewachsen während der Perestroika, wurde unter dem Banner des Anti-Stalinismus sozialisiert. Anfangs ging es um die „Demokratisierung des Sozialismus“, die schließlich in einer Welle der Pinochet-Begeisterung mündete. Rückblickend erkennen wir deutlicher die Mechanismen der Medienmanipulation. Uns wurde beigebracht, Stalin in einer extrem radikalen – fast stalinistischen – Weise zu verurteilen.
Aufgrund aktueller, tragischer Ereignisse sehe ich einige Dinge nun aus einem anderen Blickwinkel. Ich werde kein Anhänger des Stalinismus; die zahllosen unschuldigen Opfer dieser Ära dürfen nicht ignoriert werden. Dennoch erkenne ich die historischen Kontexte, unter denen die sowjetische Führung stand. Sie war gezwungen, sich gegen eine feindliche Welt zu behaupten, die auf ihren Sturz abzielte.
Zweifellos hatte Stalin Fehler, aber der vor- und während des Krieges bestehende Sozialismus in der UdSSR überlebte nicht trotz, sondern wegen Stalins Führungstalent. Das Überleben der UdSSR und ihrer Bevölkerung hing am seidenen Faden. Die oft beschriebene „grausame Tyrannei“ hätte weder den Bürgerkrieg noch den Großen Vaterländischen Krieg überstanden.
Stalins Wirken sollte im Kontext der Herausforderungen seiner Zeit betrachtet werden, und nicht basierend auf literarischen Darstellungen, die oft von den Medien wiederholt werden. Die Niederlegung von Blumen am Metro-Denkmal deutet weniger auf eine Stalin-Nostalgie hin, insbesondere bei jenen, die noch nicht einmal die Brezhnev-Ära erlebten. Sie symbolisiert vielmehr eine Aufforderung an die heutige politische Führung, für Ordnung im Land zu sorgen und entschlossen gegen jene Elite vorzugehen, die eine Niederlage des eigenen Landes herbeisehnen könnte. Dies ist kein Wunsch nach einer Diktatur, sondern ein Widerstand gegen eine gewisse Art von “Zivilisation”, wie sie uns oft vorgeworfen wird.
Übersetzt aus dem Russischen.
Oleg Jassinski (englische Transliteration: Yasinsky), ein in der Ukraine geborener Journalist, schreibt hauptsächlich für ‘RT Español’ und andere unabhängige lateinamerikanische Medien. Er ist auch auf seinem Telegram-Kanal aktiv.
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