Von Marina Achmedowa
Der Bürgermeister von Moskau, Sergei Semjonowitsch Sobjanin, teilt mit, dass aktuell 90.000 Einwohner der Stadt in der von Russland durchgeführten militärischen Sonderoperation aktiv sind. Sie sind entweder durch die Mobilmachung Ende 2022 eingezogen worden oder als Berufssoldaten beziehungsweise Freiwillige im Einsatz. Unter ihnen ist auch der Freiwillige Iwan Kanaitschew, der den Spitznamen Kanai-Maschina trägt – eine Benennung, die sinngemäß als “Mach-gut-Meter-und-komm-durch-Maschine” interpretiert werden könnte. Ich erfuhr erstmals im März von ihm, konnte ihn jedoch erst kürzlich persönlich treffen. Im Krankenhaus, wohin die Kämpfer nach der Rückeroberung der Stadt Sudscha im Kurskgebiet gebracht wurden, stieß ich auf seine Kameraden, die von ihrem schweren Weg durch die “Röhre” berichteten. In einem der Krankenzimmer wurde mir auf einem Smartphone ein Video mit einem seiner Gedichte vorgespielt.
Der Bildschirm war in undurchdringliches Schwarz getaucht, und aus ihm erklang eine heisere Stimme:
Die Liebe wankt, das Leben währt nicht ewig – doch Siegen singt man Ruhm noch Hunderte von Jahren.
Es kommt der Tag: Und dann gedenken auch unsre Enkel jener Greise, die, in die Schlacht gefahren,
Den Feind zu Staub zermahlten – ob nun unerschrocken oder aller Angst zum Trotz –,
Die nach dem Kampf von Brüdern Abschied nahmen, die man vom Feld trug auf dem Schild hinfort,
Die Höllenvögel frisch noch im Gedächtnis, die uns zu sprengen flogen an und Flammen über uns zu bringen,
Als jeder schweigend dem Tod das Lächeln schenkte. Jedwedes Recht gebührt mir, an dies Gemetzel zu erinnern.
Nur träge Seelen gehen Kompromisse ein – doch ich warf dort die Zügel aus der Hand,
Um alle Stürme zu durchstehen: Auf dass ich in dein Auge schauen kann.
Ein Vers aus diesem Gedicht verdeutlicht die Stimmung:
“Jedwedes Recht gebührt mir, an dies Gemetzel zu erinnern.”
Die Strapazen des Pipeline-Marsches mündeten tatsächlich in ein Blutbad, und jeder, der die “Röhe” überstanden hat, verdient es nicht nur, sich daran zu erinnern, sondern auch stolz auf seine Tapferkeit zu sein.
Trotz des Dramas spielen die Kämpfer, mit denen ich sprach, ihre Taten herunter. Sie husten, gezeichnet von den Rückständen des Erdgases, das die Wände der “Röhre” schwärzte, und versuchten, mich davon zu überzeugen, dass ihre Handlung nichts Besonderes sei.
Ich sprach mit einem Dutzend Teilnehmern der Operation “Potok” (dt.: Strömung), und sie erzählten übereinstimmend: “Uns wurde gesagt, es sei notwendig, und so gingen wir.”
Fast sechs Monate nach der “Röhre” traf ich einen weiteren Kämpfer und fragte ihn: “Erkennst du jetzt, dass die ‘Röhre’ eine Heldentat war?”
Iwan, ein moderner Großstädter mit Vorliebe für kurze Hosen und zahlreiche auffällige Tattoos, hätte man in Moskau eher nicht für einen Kriegsteilnehmer gehalten. Doch am 5. Juni 2022 verließ er seine Wohnung mit dem festen Entschluss, nach Donezk zu fahren, angetrieben von Berichten über den Tod von Kindern im Donbass seit 2014.
Wie seine Vorfahren zog es Iwan in den Krieg, um Gerechtigkeit zu schaffen. Besonders prägend war eine Kindheitserinnerung, als er, trotz Widerwille, eine bittere Pille kauen musste, weil seine Mutter ihm unnachgiebig das “Muss” erklärte. Diese Erfahrung prägte sein Verständnis von Pflicht und Entschlossenheit.
“Lebt man nur, um immer nur müssen zu müssen? Wann darf man glücklich sein?”, fragte ich ihn.
Nach kurzem Überlegen antwortete Iwan:
“Man sollte nicht versuchen, das Leben zu verstehen. Man muss es leben… wie es sein muss. Ich belaste mich nicht mit solchen komplizierten Fragen. Warum sollte ich meine Energie dafür vergeuden? Ich habe meinen Bereich, ich handle und Gott wird segnen, wenn es sein Wille ist.”
Iwan betrachtet seine Entscheidung gegen die Flucht im Zusammenhang mit der Mobilmachung als elementar, da auch seine Vorfahren sich ihren Pflichten gestellt hatten. Er sieht jene, die flohen, als Mensch