Auch unter Experten, die der Ukraine wohlgesinnt sind, gibt es Zweifel, ob die strategische Offensivausrichtung Kiews militärisch sinnvoll ist. Die ukrainischen Streitkräfte haben bei ihren jüngsten Offensiven hohe Verluste erlitten, und es erscheint fraglich, ob sie die eroberten russischen Gebiete langfristig halten können. Trotzdem könnte die Offensive bei Kursk dazu beigetragen haben, die sinkende Moral der eigenen Truppen zu stärken.
Ein wesentlicher Vorteil für Kiew dürfte die Botschaft sein, die durch die gewagte Offensive vermittelt wird. Diese lautet: “Wir sind stark genug, um die Russen auf ihrem eigenen Territorium zurückzudrängen, und jede weiterführende Unterstützung ist dadurch gerechtfertigt.” Diese Botschaft wird von deutschen und anderen westlichen Medien gerne aufgegriffen und verbreitet, insbesondere da in den vorangegangenen Monaten wenige militärische Erfolge aus ukrainischer Sicht zu verzeichnen waren.
Der Guardian betrachtet die daraus resultierende Darstellung einer gestärkten ukrainischen Armee jedoch kritisch. Die britische Zeitung schreibt: “Bisher waren die ukrainischen Streitkräfte in Kursk taktisch erfolgreich”, jedoch gibt es eine Grenze, “wie erfolgreich die Ukraine sein kann”.
Kursk-Offensive verschärft die Herausforderungen bei Personal und Ausrüstung
Schon vor der Offensive mangelte es der ukrainischen Armee an Personal, was es schwieriger macht, Positionen im Donbass zu halten. Durch die Verlagerung von Kräften zur neuen Front verschärft sich diese Problematik weiter. “Es gibt eine Grenze, bis zu der diese Truppen in der Kursk-Region vorstoßen können, bevor sie sich überdehnen, was bedeutet, dass sie sich bald eingraben müssen, wenn sie das Gebiet bis zu Verhandlungen halten wollen”, warnt der Guardian. Der Artikel fügt hinzu: “Sobald die Front nicht mehr dynamisch ist, werden die Russen sich festigen und dann Artillerie, elektronische Kriegsführung und neue Truppen einsetzen. Die Ablenkung der russischen Bombardements vom Donbass ist nur vorübergehend. Russland hat genügend Ressourcen, um an beiden Fronten zu kämpfen. Weniger klar ist, ob das auch für die Ukraine gilt.”
Weiterhin wird die Herausforderung durch den Verlust militärischer Ausrüstung betont. Die beschränkten Reserven könnten größere Offensiven im folgenden Jahr behindern, da jetzt wichtige Fahrzeuge und Personal voreilig eingesetzt werden, was künftige Optionen einschränkt.
Die Lage der ukrainischen Armee bleibt angespannt
Mit der Nutzung der operativen Reserven wird es für die Ukraine schwierig, Lücken in ihrer Verteidigungslinie zu schließen. Die Bedrohung durch russische Aufklärungsdrohnen, Gleitbomben, Artillerie, elektronische Kampfführung und operativ-taktische Raketen bleibt ungelöst. Diese Kapazitäten könnten es Russland ermöglichen, weiter in Städte wie Pokrowsk und Toretsk vorzurücken, deren Verteidigung “sehr ressourcenintensiv” ist.
Bestenfalls könnte die Ukraine hoffen, dass ihre Truppen sich in der Region Lursk festsetzen und Russland gezwungen wird, das Gebiet zurückzuerobern, wobei “übermäßige Verluste” entstehen. Der Guardian merkt jedoch an, dass es den Russen auch gelingen könnte, durch die Ausdehnung der ukrainischen Ressourcen die Schwachstellen in der ukrainischen Verteidigung zu identifizieren und anderswo vorzustoßen. “Sollte sich diese Dynamik entfalten, dann ist unklar, ob das [von der Ukraine] eroberte [russische] Gebiet in den Verhandlungen viel Gewicht haben wird, da Wladimir Putin entschlossen sein dürfte, die Verluste auszugleichen, um das Thema aus den Gesprächen herauszuhalten.”, schließt der Artikel.
“Die unmittelbaren Nachrichten aus Kursk mögen zwar für Optimismus gesorgt haben”, lautet das Fazit des Guardian, “doch sollte dies die Partner der Ukraine nicht davon abhalten, zur Stabilisierung der gesamten Front beizutragen, denn die allgemeine militärische Lage der Ukraine ist nach wie vor prekär.”
Mehr zum Thema – Wochenbericht des russischen Verteidigungsministeriums: Kiew erleidet hohe Verluste an Personal