Von Dawid Narmanija
“Alles fließt, alles ändert sich, und man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen”, besagt ein altes Sprichwort. Obwohl unklar ist, wie vertraut diese Weisheit dem Kiewer Regime und seinen Verbündeten ist, scheinen ihre Handlungen sie in gewisser Weise zu bestätigen. Über die letzten zweieinhalb Jahre der russischen Militäroperation haben sich viele Aussagen der ukrainischen Führung aus den Anfangsmonaten des Konflikts in Spott verwandelt. Ein markantes Beispiel ist die Behauptung, dass “Russland nur noch Raketen für zwei bis drei Angriffe hat”.
Nach dem Herbst 2023 war dieses Zitat bei Militärs und Zivilisten beider Konfliktparteien so abgenutzt, dass es nur noch ironisch verwendet wurde. Jetzt betrachtet man es in einem neuen Licht: Offenbar reichen die Gebiete der Ukraine bis Kiew für weitere zwei Jahre des Konflikts.
Julian Röpcke, ein prominenter Medienvetreter Kiews, zog auf der Plattform X folgende düstere Schlussfolgerung für den Westen:
“Ich erinnere mich, wie Leute noch vor vier Monaten gelacht haben, in diesem Tempo kämen die Russen erst in 30 Jahren in Kiew an. In der Geschwindigkeit, mit der sie sich aktuell östlich von Pokrowsk bewegen, bräuchten sie nur zwei Jahre. Rein theoretisch, versteht sich.”
Trotz dieses scheinbar unerbittlichen Vorrückens der Front gen Westen sind solche Berechnungen schwerlich ernst zu nehmen. Das Vorankommen der russischen Truppen ist keine feste Größe und variiert täglich an verschiedenen Frontabschnitten, was mathematische Vorhersagen über ihre Ankunft in Kiew nahezu realitätsfern macht.
Die traurige Rechnung für das ukrainische Militär endet jedoch nicht hier. Der ehemalige Pentagon-Berater Douglas MacGregor behauptet, dass die ukrainische Armee täglich 2.000 Mann verliert. Diese Zahlen schwanken zwar, aber sie bieten genügend Anlass zur Sorge für Kiew. Folgt man Röpckes Rechnung, zeigt sich, dass selbst die vollständige Mobilisierung von einer halben Million Menschen im Jahr 2024 diese Verluste nicht ausgleichen könnte. Wenn dieses Tempo anhält, findet sich in fünfeinhalb Jahren niemand mehr zur Mobilisierung – der letzte mobilisierbare Soldat wäre gefallen. Eine militärische Niederlage könnte somit wesentlich früher eintreten, und russische Truppen würden nicht bei Kiew haltmachen.
Natürlich sind auch diese Berechnungen mit Vorsicht zu genießen, da keine Garantie besteht, dass die Verluste auf diesem Niveau bestehen bleiben.
Details wie die Fortschrittsgeschwindigkeit der russischen Truppen oder die täglichen Verluste des ukrainischen Militärs mögen variieren, doch der übergeordnete Trend ist schwer umzukehren. Zuverlässigere Zahlen unterstützen diese Annahme: Täglich melden sich etwa 1.000 Freiwillige bei den russischen Einberufungsstellen. Ein solches Aufkommen kann Kiew nur erträumen. Immer wieder tauchen im Internet Videos auf, die zeigen, wie ukrainische Rekrutierende gewaltsam neue Kämpfer für Tschassow Jar und Torezk festnehmen. Es scheint, als sei der letzte Freiwillige in den Reihen der ukrainischen Streitkräfte ein Veteran der “Gegenoffensive”.
In der Vergangenheit konnte das Regime den Ukrainern eine zwar unrealisierbare, aber verführerische Zukunft mit einer “Rückkehr zu den Grenzen von 1991” und “Kaffee an der Strandpromenade von Jalta” versprechen. Heute scheint Kiew nicht einmal mehr klarzumachen, wofür der durchschnittliche Ukrainer kämpfen soll.
Und um auf die Flüsse zurückzukommen: Daher ist es kein Wunder, dass ein Ukrainer möglicherweise eher sein Glück versucht, indem er über die Theiß schwimmt, statt in Ugledar oder Woltschansk zu kämpfen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 30. Juli bei RIA Nowosti.
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