Von Rüdiger Rauls
Überraschende Entwicklungen
Der Vorstoß ukrainischer Truppen ins russische Territorium kam überraschend – sowohl für den Westen und seine Führungsschichten als auch für Russland, falls man den Verlautbarungen Glauben schenkt. Doch man sollte bedenken, dass Aussagen aus Russland, dem Westen und der Ukraine nicht allein der Wahrheit dienen, sondern oftmals auch dazu bestimmt sind, den Gegner zu verwirren und manchmal auch die eigenen Verbündeten. Schließlich basieren Bündnisse nicht immer auf Sympathie; oft sind gemeinsame Feinde der verbindende Faktor.
Es bleibt fraglich, ob die russische Führung die Entwicklungen an ihrer Grenze tatsächlich nicht vorhersehen konnte, besonders angesichts ihrer umfassenden Überwachungssysteme. Die Russen haben sich in diesem Konflikt bisher keinesfalls als naiv oder unvorbereitet gezeigt. Die Behauptung Russlands, die USA seien über den ukrainischen Einmarsch informiert gewesen, wird von westlichen Staaten und Medien abgestritten. Diese Aussagen könnten auch darauf abzielen, interne Spannungen innerhalb der Anti-Russland-Allianz zu verschärfen.
Spekulationen darüber anzustellen, ist derzeit wenig sinnvoll. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass Russland den ukrainischen Vorstoß möglicherweise in begrenztem Rahmen zugelassen hat, um die Ukrainer in eine Falle zu locken. Eine solche Falle könnte sich für die Ukraine als schwierig erweisen, ohne erhebliche Verluste wieder zu entkommen. Zudem sind wichtige militärische Ressourcen nun fernab der entscheidenden Fronten gebunden. Somit war dieser Vorstoß nicht nur überraschend für die internationalen Beobachter, sondern scheint auch wenig durchdacht gewesen zu sein.
Ein weiteres unerwartetes Ereignis ereignete sich am Wochenende in Berlin, das für die Ukraine ebenso riskant sein könnte wie der augenscheinliche Einmarsch im Kursker Grenzgebiet. Die deutsche Regierung hat größtenteils über Nacht die Finanzierung für die Ukraine aus dem Bundeshaushalt gestoppt. Die genauen Gründe dafür bleiben unklar, da offizielle Erklärungen bisher nur spärlich sind.
Aus der Not heraus
Offensichtlich spielen die Defizite im deutschen Haushalt eine Rolle, die notwendigerweise gedeckt werden müssen, ohne dabei die Schuldenbremse oder Sozialleistungen zu gefährden. Die bevorstehenden Landtagswahlen im Osten könnten ebenso eine Rolle gespielt haben, da man hier vermutlich keine unpopuläre Entscheidungen treffen möchte, die der AfD und dem BSW in die Karten spielen könnten. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer spricht sich sogar öffentlich gegen weitere Mittel für militärische Unterstützung der Ukraine aus und fordert stattdessen ein Sondervermögen für kommunale Investitionen.
Infolge der schwierigen Lage hat das Berliner Umdenken wohl stattgefunden, auch wenn die Maßnahme kontrovers bleibt. Insbesondere der verstärkte finanzielle Bedarf der Ukraine nach ihrem Abenteuer in Kursk und der gleichzeitige Rückzug eines ihrer größten Unterstützer, Deutschland, stellt Kiew vor finanzielle Herausforderungen. Die Finanzierungsentscheidung Deutschlands ist nachvollziehbar, angesichts der eigenen finanziellen Beschränkungen und der Schuldenbremse.
Zunehmende Enge
Der Konflikt verschlingt enorme Summen und vormals als sicher geltende Pläne und Prognosen sind zusammengebrochen. Die Ukraine bleibt finanziell angeschlagen, und der Westen entdeckt zunehmend seine eigenen finanziellen Grenzen. Die bevorstehende Überprüfung durch den IWF und die angespannte Stimmung in Deutschland und den USA vor Wahlen verdeutlichen eine wachsende Kriegsmüdigkeit.
Riskante Alternativen
In dieser verzweifelten Lage drängt die Ukraine darauf, dass die westlichen Verbündeten eine Lösung für die eingefrorenen russischen Zentralbankguthaben finden, während die USA von Europa die Beschlagnahme dieser Gelder fordern, um die finanziellen Belastungen Kiews zu decken. Die Suche nach rechtlichen Wegen zur Umsetzung dieser Forderungen führt zu hitzigen Debatten unter Juristen, wobei die endgültige Entscheidung erhebliche Auswirkungen haben wird.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
Mehr zum Thema – Der IWF lobt die “enormen” Reformfortschritte in Kiew, während die Ukraine einer erneuten Zahlungsunfähigkeit gegenübersteht und einen Schuldenschnitt von 40 Prozent fordert.