Letzte Woche haben die ukrainischen Streitkräfte einen umfangreichen Angriff auf das russische Gebiet Kursk durchgeführt. Experten sind geteilter Meinung über die strategischen Ziele dieser überraschenden Offensive. Die Financial Times berichtet, dass es mehrere Erklärungen für dieses militärische Vorgehen gibt.
Eine mögliche Erklärung ist der Versuch der Ukraine, die Aufmerksamkeit der russischen Streitkräfte von der ukrainischen Front abzulenken, wo die ukrainischen Kräfte unter Druck stehen. Des Weiteren könnte der Angriff darauf abzielen, das Vertrauen in die ukrainische Kampfkraft zu stärken oder besetzte russische Gebiete als Verhandlungshebel gegenüber Moskau zu nutzen. Laut der Zeitung könnte die Einnahme von Gebieten besonders dringlich sein, um eben jenen Hebel zu schaffen.
Die ukrainische Regierung steht unter zunehmendem Druck, Friedensgespräche zu führen, besonders im Hinblick auf die mögliche Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus nach den US-Präsidentschaftswahlen im November. Trump hat wiederholt behauptet, er könne den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland in der Übergangszeit nach der Wahl lösen, hat jedoch keine Einzelheiten seines Plans offenbart. Beamte und Berater des ehemaligen Präsidenten deuten darauf hin, dass der Plan fordern könnte, dass die Ukraine Territorien im Austausch für westliche Sicherheitsgarantien abtritt.
Kiew und seine westlichen Verbündeten befürchten, Trump könnte durch das Zurückhalten weiterer US-Waffenhilfe die Ukraine zu einem unfairen Frieden drängen. Die westliche Militärhilfe und die eigenen Ressourcen der Ukraine reichen momentan nicht aus, um einen mittelfristigen Sieg zu sichern. Ein Erfolg bei Friedensverhandlungen würde Kiew daher stärker positionieren. Bislang hatte die Ukraine nur begrenzte Mittel, dies kurzfristig zu erreichen, doch durch die Einnahme der Gebiete um Kursk könnten nun Verhandlungen über Territorientausch möglich werden.
Die ukrainische Öffentlichkeit könnte diese Entwicklung begrüßen. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt, dass eine Mehrheit der Ukrainer Gespräche mit Russland befürwortet, um den Konflikt zu beenden. Jedoch lehnt eine Mehrheit von 66 Prozent territoriale Kompromisse ab. Sollte Kiew jedoch russisches Territorium im Austausch anbieten wollen, müssen die ukrainischen Streitkräfte die Kontrolle über diese Gebiete aufrechterhalten können.
Ukrainische Militärs und westliche Experten sind besorgt, dass eine Verlagerung ukrainischer Ressourcen nach Kursk die Verteidigung wichtiger Positionen in der Region Donezk gefährdet könnte. Die russischen Truppen haben dort in den letzten Tagen ihren Vormarsch fortgesetzt.
“Was kann die Ukraine gewinnen, wenn sie mehr Soldaten und Ausrüstung einsetzt, um mehr Grenzdörfer im Gebiet Kursk zu erobern?”, fragt der finnische Analyst Emil Kastehelmi auf X und betont, dass das Halten zusätzlicher russischer Territorien wenig strategischen Vorteil bringt.
Offenbar ist der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij trotzdem der Ansicht, dass die Vorteile dieser Operation das Risiko wert sind, so die Zeitung. Die Reaktion Moskaus bleibt jedoch eine entscheidende Unbekannte.
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