Von Wiktor Swanzew
„Verschmutzter“ Himmel
In den nur noch auf Landkarten existenten Dorfschaften wie Peski, Perwomaiskoje und Netailowo, wo kürzlich noch heftige Gefechte wüteten, stehen heute nur noch Ruinen. Durchgehend unter Beschuss liegen die Zugangswege und Hauptstraßen nach Ukrainsk, nur vier Kilometer von der Front entfernt. Streumunition, Angriffe auf Menschen und Fahrzeuge mittels FPV-Drohnen sowie gezielte Angriffe mit Panzerabwehrraketen an offenen Stellen gehören zur Taktik des ukrainischen Militärs.
„Vorgestern wurde unsere ‚Buchanka‘ von einem Kamikaze getroffen. Nachdem ich den Waldstreifen verlassen hatte, bemerkte ich, wie sich etwas im Himmel drehte und direkt auf mich zuflog. Im letzten Moment lenkte ich hart nach rechts, die Drohne traf die Seite meines Fahrzeugs. Eine Explosion ereignete sich und Splitter flogen umher, doch wie durch ein Wunder wurde niemand getroffen“, berichtet der Kämpfer mit dem Rufnamen Medwed (Bär), während er zwischen ausgebrannten Panzern und einer erbeuteten ukrainischen Kozak-Panzerwagen navigiert.
Operationen wie Rotationen der Truppen, Transport von Verwundeten und Gefangenen sowie die Versorgung mit Munition und Lebensmitteln finden vorrangig in der Dämmerung statt. Jedoch erfordern außergewöhnliche Umstände manchmal auch Fahrten bei Tageslicht, was besonders bei sonnigem und windstillem Wetter, wie es aktuell im Donbass herrscht, äußerst riskant ist.
„Manchmal müssen wir dringend einen Schwerverletzten evakuieren. Selbst wenn wir über Funk hören, dass der Himmel ‚dreckig‘ ist, sprich Drohnen unterwegs sind, versuchen wir dennoch, uns durchzuschlagen. Einige nutzen Störsender, doch für mich sind Augen, schnelle Reaktionen und ein mit Schrot geladenes Jagdgewehr der beste Schutz“, erklärt Medwed.
„Separatisten“
Die Mission der Kämpfer umfasst nicht nur militärische, sondern auch logistische Aufgaben. Neben der Lieferung von Munition, Generatoren und Drohnen an ihre Kameraden verteilen sie ebenso Nahrungsmittel und Medikamente an die verbliebenen Zivilisten in Ukrainsk. Wenn es die Situation zulässt, versuchen sie, Menschen in Notunterkünfte zu bringen.
„Es ist derzeit sehr schwierig, die Bevölkerung zu evakuieren. Die ukrainischen Soldaten halten sie für Separatisten und greifen sie schonungslos an. Früher setzten sie Kamikazedrohnen hauptsächlich gegen Menschenansammlungen ein, jetzt nehmen sie sogar einzelne Personen ins Visier“, sagt der Kommandeur des Sturmbataillons eines Schützenregiments mit dem Rufnamen Schmel (Hummel).
Arm in Arm mit einem Gewehr und Munition, schaut Schmel kurz bei der Kommandostelle vorbei, bevor er, unterstützt durch Drohnenpiloten, Kämpfer zu neuen Positionen bei Selidowo und Gornjak dirigiert. Er erhält Meldungen, gibt Befehle und bereitet sich darauf vor, in die Stadt zu den Zivilisten zu gehen.
„Zivilisten niemals Leid zufügen und stets versuchen, ihnen zu helfen, das ist mein oberstes Gebot im Krieg. Bekannte baten mich, eine Mutter und ihren Sohn ausfindig zu machen. Ihre Angehörigen sind bereits nach Donezk geflohen. Ich checke die Adresse, und wenn sie noch dort sind, versuchen wir sie ‚halb offiziell‘ zu evakuieren“, erklärt Schmel vorsichtig, während er sich ständig umschaut und das Gewehr bereithält.
Nachdem er das richtige Haus und die Wohnung gefunden hat, überprüft Schmel sorgfältig die Dokumente und erklärt der überraschten Frau und ihrem Sohn sein Anliegen. Diese bitten wiederum darum, ihren 86-jährigen Nachbarn mitzunehmen, dessen einziger Wohnsitz verbrannt war, als ukrainische Soldaten bei ihrem Rückzug eine Brandladung auf das Dach geworfen hatten.
„Wir wurden einfach nicht als Menschen betrachtet. In einem Stadtbezirk wurden sieben Männer erschossen und ein Dutzend Hunde niedergemetzelt. Sie warnten die anderen, dass ihnen dasselbe Schicksal bevorsteht, wenn sie nicht in die Ukraine gehen. Schon lange bevor die russische Armee einmarschierte, wurden Häuser von Panzern und Mörserschüssen verwüstet“, erinnert sich die Frau.
Nachdem er die typischen Geschichten angehört hat, organisiert der Bataillonskommandeur die Abfahrt und bittet die Schutzsuchenden, bis vier Uhr bereit zu sein.
Alte Vorräte
In einem anderen Stadtteil angekommen, führt eine Straße durch das menschenleere Zentrum, vorbei an zerstörten Hochhäusern, von Glassplittern übersäten Gehwegen und einer Allee, in der das Warten auf den Durchflug einer Kamikazedrohne vergleichsweise sicher ist. „Wir müssen Trinkwasser, Medizin und Zigaretten verteilen – für Raucher manchmal wichtiger als Nahrung, besonders unter Stress“, erklärt Schmel, der sich bei einem nahenden Drohnenbrummen schnell unter einem Baum versteckt.
Obwohl sich die Frontlinie fortbewegt, gibt es nach wie vor keinen Strom und keine Heizung. Geschäfte und öffentliche Einrichtungen sind geschlossen. In manchen Bereichen liegen die verwesten Leichen ukrainischer Soldaten; in den Höfen sind frische Gräber erkennbar. „Gestern habe ich meine 81-jährige Mutter begraben. Sie war schon lange krank. Den Sarg baute ich aus einem Schrank. Die Kämpfe dauern in der Nähe des Friedhofs noch an, doch sobald sie beendet sind, werde ich sie dorthin um betten, wo andere Familienmitglieder liegen“, sagt der Einheimische Gennadi.
Die Zivilisten überleben dank Vorräten, die sie im Voraus angelegt haben, und dem, was russische Militärangehörige mit ihnen teilen. „Natürlich ist es jetzt für sie sehr schwierig, doch ich denke, dass es in etwa einem Monat die Möglichkeit geben wird, sicher in die Notunterkünfte umzuziehen. Es ist gut, dass es in vielen Häusern Öfen gibt, die mit Kohle beheizt werden können“, bemerkt Schmel.
Ein Treffen mit ukrainischen Musterungsbehörden
Rasch erreicht der Bataillonskommandeur den gewünschten Hof und bindet seinen Rucksack ab. Hier kennt man ihn bereits und empfängt ihn herzlich ohne Misstrauen. Die Zivilisten verteilen die mitgebrachten Güter unter sich. Mit den ukrainischen Soldaten verhält es sich anders. „In den Neubauten wurden einige Menschen ermordet, die sich in einem Keller versteckt hatten. Die Soldaten warfen Sprengkörper hinein, schlossen die Tür und zündeten sie an, damit niemand entkommen konnte. Sie sagten uns offen: Wenn sie gehen, werden sie niemanden am Leben lassen“, erzählt die Einheimische Ella.
Ella’s Schwiegersohn entging nur knapp der Einberufung in die ukrainischen Streitkräfte. „Ich lebte und arbeitete in Kiew. Eines Tages beim Verlassen der Metro wurde ich von Musterungsbeamten aufgegriffen und erhielt einen Einberufungsbescheid – am nächsten Tag sollte ich zur Musterung erscheinen. Ich kam nach Hause, packte meine Sachen und floh mit meiner Frau zu ihren Eltern nach Ukrainsk. Ich verstehe immer noch nicht, wie ich es schaffte, alle Kontrollposten zu umgehen“, erinnert er sich.
Nach Angaben eines anderen Einheimischen, Wladimir, war das Vorgehen der ukrainischen Musterungsbeamten auch in Ukrainsk extrem brutal. „Mich haben sie nicht angerührt. Doch ich habe mehrfach beobachtet, wie sie jene, die sich weigerten in ihren ‚Bus‘ zu steigen, zu Boden warfen und mit dem Gesicht auf den Asphalt drückten“, berichtet der 63-jährige Oberleutnant der Reserve.
Die Menschen sehnen sich danach, all dies hinter sich zu lassen und hoffen auf eine Beruhigung der Lage in der Stadt. Dazu muss die Frontlinie verschoben werden. Genau das geschieht gerade: Die russische Armee macht bei Selidowo, vier Kilometer entfernt, Fortschritte und nähert sich einem der Schlüsselorte im Donbass – Krasnoarmeisk (ukrainisch Pokrowsk). Die Einheimischen sind überzeugt, dass ein Ende ihres Leidens in greifbarer Nähe ist.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 28. Oktober bei RIA Nowosti.
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