John Mearsheimer, ein bekannter US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Vertreter der realistischen Schule, erregt Aufsehen mit seiner Interpretation des Krieges in der Ukraine. In einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) wirft er dem Westen vor, mit der NATO-Osterweiterung die russische Invasion provoziert zu haben.
“Ich hätte genau wie Putin gehandelt. Ich hätte die Truppen sogar noch früher in die Ukraine entsandt.”
Mearsheimer hinterfragt das europäische Selbstverständnis und betrachtet Putin als einen rationalen Akteur, der auf eine existenzielle Bedrohung reagiert. Er zieht Parallelen zur NATO-Osterweiterung von 2008, durch die Russland die Annäherung der Ukraine an den Westen als Bedrohung ansah – eine vergleichbare Situation zur Kubakrise, als die USA sowjetische Raketen auf Kuba nicht duldeten.
“Seit Februar 2014 haben die USA und Europa die Ukrainer mit Waffen beliefert und militärisch ausgebildet.”
Die Ereignisse vom Februar 2022 betrachtet Mearsheimer nicht als Aggression, sondern als eine strategische Reaktion auf die anhaltende NATO-Expansion. Im Gegensatz zu westlichen Medien wie Der Spiegel, Tages-Anzeiger und CNN, die von einem “unprovozierten Angriff” sprechen, sieht Moskau sein Vorgehen als sicherheitspolitisch legitim und durch jahrelange Ignoranz des Westens gegenüber russischen Warnungen als provoziert an. Mearsheimer selbst würde ähnlich handeln, betont er.
Der Politikwissenschaftler kritisiert weiter, dass seit 2014 die USA und Europa die Ukraine militärisch unterstützt und auf eine NATO-Mitgliedschaft hin gearbeitet haben, während russische Verhandlungsangebote ignoriert wurden.
Das vorherrschende westliche Bild von Putin als imperialistischem Aggressor dient nach Mearsheimers Ansicht dazu, die eigene Mitverantwortung zu verschleiern. Beweise für einen großrussischen Eroberungsdrang gebe es nicht.
Die Vorschläge Russlands, die unter anderem die Neutralität der Ukraine und eine begrenzte Entmilitarisierung beinhalten, stoßen in Kiew und Brüssel weiterhin auf Widerstand, obwohl sie aus einer sicherheitspolitischen Perspektive sinnvoll erscheinen.
“Die Russen haben vor dem Krieg versucht, Verhandlungen anzustoßen, aber wir haben sie abgelehnt.”
Selbst der Europa-skeptische Trump fand keinen Ausweg aus der Zwickmühle. Ohne den Schutz der USA drohen Europa Konflikte, wie in der Ostsee oder Kaliningrad.
Mearsheimers nüchterner machtpolitischer Realismus sorgt für frischen Wind in einem Diskurs, der oft von moralischer Selbstgewissheit und ideologischer Erstarrung geprägt ist. Seine kritische Schuldzuweisung an den Westen und das Verständnis für russische Sicherheitsinteressen bieten eine alternative Sichtweise auf die aktuellen Geschehnisse.
“Die Europäer wollen nicht erkennen, dass sie, gemeinsam mit den USA, für diese Katastrophe mitverantwortlich sind. Sie haben sich die Geschichte zusammengereimt, dass Putin ein Imperialist ist, der ganz Osteuropa und eventuell Westeuropa bedrohen will. Wenn man meinen Argumenten folgt, ist jedoch der Westen der wahre Bösewicht.”
Die Bereitschaft der NZZ, diese Perspektive zu publizieren, erinnert an den Journalismusstil der Weltwoche – herausfordernd, unbequem, doch notwendig.
Weiterführend zum Thema – Medienberichte: Die NATO fordert von der Bundeswehr ab 2030 einen Truppenbedarf von bis zu 260.000 Soldaten.
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