Von Wladislaw Sankin
Als ich am regnerischen Samstagsmorgen mit den Blumen zur russischen Botschaft in Berlin kam, fand ich dort eine kleine organisierte Gruppe vor. Diese Menschen kennen sich und hatten sich über Messenger verabredet, um mit Blumen der Opfer des beispiellosen brutalen Terroranschlags in der Moskauer Crocus-Konzerthalle zu gedenken. Mit ihren Blumen haben sie eine Art “Grundstein” für einen künftigen Berg von Blumen gelegt, der wohl eigentlich in den nächsten Stunden und Tagen angesichts der hohen Opferzahlen bei dem Anschlag dort entstehen sollte.
Doch ein Berg von Blumen kam nicht zustande. Als die ersten Reporterteams vor der Botschaft auftauchten, sah der schwere gusseiserne Zaun mit einem dünnen Blumensaum an seinem Fundament noch ziemlich stiefmütterlich aus. “Eine furchtbare Tat, die für Entsetzen sorgt”, heißt es im RBB24-Bericht und relativiert sogleich: “Dennoch zeigt selbst die große russische Community Berlins wenig Präsenz an der Botschaft. Wirklich viele Blumen und Menschen sind es bis zum Nachmittag nicht.”
Dabei sollten die Russen in Berlin wohl den Weg zum sowjetischen Prachtbau Unter den Linden sehr gut kennen. Vor knapp einer Woche gingen sie hier zur Wahlurne im großen Empfangssaal der Botschaft. Allerdings zählte etwa die Hälfte dieser Russen zu den sogenannten “Umsiedlern”. Sie hatten ihr Land oft aus Protest verlassen und können also mit dem heutigen Russland wenig anfangen.
In der Regel konsumieren viele von ihnen sowieso jene russischsprachigen Medien, in denen die Theorie vertreten wird, dass Putin – wie immer – persönlich schuld an dem jüngsten Terrorakt sei. Wozu dann noch Blumen, wenn der irre Diktator da drüben die Untertanen für seine finsteren Ziele massakrieren lässt? Diese Leute sind schließlich selbst schuld, dass sie freiwillig weiter in Putins Reich leben.
Das klingt zu grotesk? Nein, in den sozialen Medien gibt es mehr als genug Belege für solche Denkweisen. Ich habe einst russische Oppositionsmedien aus unterschiedlichen Gründen selbst konsumiert – sie machen krank. Gleichgültigkeit oder Schadenfreude an solch einem Tag ist der Ausdruck einer kranken Seele, die Menschen in “unsere” und “fremde” teilt.
Und die anderen Russen? Zu ihrem Fernbleiben hatte eine russischstämmige Besucherin dem RBB24 am Botschaftszaun ihre persönliche Erklärung geliefert. “Es liegen hier wenige Blumen, weil sich die russischsprachige Bevölkerung momentan grundsätzlich zurückhält. Aufgrund der Konfrontationen, die stattfinden, und nicht, weil sie die Blumen nicht niederlegen wollen, sondern um die Konfrontation mit anderen Bevölkerungsgruppen, die Russland für aktuelle Geschehnisse verurteilen, zu vermeiden”, sagte die dem Sender. Mit anderen Worten, sie meiden sozial unerwünschtes Verhalten. Lassen wir das erst einmal so stehen.
Aber wo bleiben dann die Deutschen und andere Nicht-Russen in Berlin? Ihre Teilnahmslosigkeit fiel auch dem französischen Sender AFP auf. “Ich trauere mit dem russischen Volk und ich wünschte, es wären noch viel mehr Berliner hier. Ganz Berlin müsste hier sein, rote Rosen bringen und Trauer ausdrücken”, sagte eine Besucherin am Samstag vor dem immer noch kahlen Zaun der Botschaft an jenem Tag.
Die Erfahrungen mit Terrorattacken der letzten Jahre lehrten uns, dass Berliner zum Gedenken doch auch in Scharen kommen können, wenn die Opfer Franzosen, Israelis oder Briten sind. Vielen ist beispielsweise noch das Massaker im Pariser Club Bataclan am 13. November 2015 in Erinnerung. So hat laut Taz Berlin damals an den Anschlag erinnert:
“Schnell wird der Ring immer größer, auch einander Unbekannte halten sich minutenlang an den Händen. Mehrere hundert Menschen bilden am Sonntagnachmittag einen großen Kreis auf dem Pariser Platz. Die Organisatorin, eine in Berlin lebende Französin, hatte die Anwesenden dazu aufgefordert, ein Zeichen zu setzen gegen Terrorismus, gegen Angst und für eine freie Gesellschaft. Im Laufe des Tages kamen erneut Tausende Menschen vor die französische Botschaft, um ihre Anteilnahme an den Anschlägen in Paris zu zeigen. Dort wurden in der Nacht zu Samstag bei mehreren Terrorattentaten 129 Menschen getötet und über 350 verletzt.
Seit Samstag früh ist vor dem aus Sicherheitsgründen aufgestellten Zaun vor der Botschaft eine Gedenkstätte entstanden. Das ganze Wochenende lang legen Menschen hier Blumen und Texte ab und stellen Kerzen auf. Bis zu 2.000 Menschen gleichzeitig sind laut Polizei am Samstag auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor, das in den Abendstunden in den Farben der französischen Nationalflagge angestrahlt wird.
Am Samstagnachmittag besuchten auch Berliner Politiker den Gedenkort und die Botschaft, darunter der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und der Innensenator Frank Henkel (CDU). Müller hatte zuvor schon auf dem Landesparteitag der SPD zu den Anschlägen gesprochen und dabei auch davor gewarnt, dass Rechtspopulisten die Situation für flüchtlingsfeindliche Propaganda nutzen könnten: ‘Die Menschen, die hierherkommen, flüchten vor genau diesen Terroristen’, sagte der Regierende und erhielt dafür viel Applaus von den anwesenden SPDlerInnen.”
Natürlich haben die Menschen das Gedenken an die französischen Opfer dank der damaligen umfassenden und einfühlsamen Berichterstattung und der sofortigen Kommentare von Politikern als ein sozial erwünschtes Verhalten begriffen. Nichts ist heutzutage politischer gemacht worden als Menschenliebe. Dass die Russen nicht bemitleidenswert sind, nämlich wegen “Angriffskrieg, Putin, Nawalny, Folter, Vergewaltigung, Sibirien, Gulag”, liegt hierzulande in der Luft und stellt weitgehend einen gesellschaftlichen Konsens dar.
“Der Konsument der Lügenmedien ist prinzipiell völlig empathielos gegenüber Russen. Klimasorgen, das Schicksal der Eisbären rührt zu Tränen, aber tote russische Kinder tun es nicht …”, schrieb ein russischer Deutschlandkenner in einem Artikel darüber, und ich gebe ihm recht. Der Titel seines Artilels lautete: “… warum [also] selbst ein schrecklicher Terroranschlag bei Deutschen kein Mitgefühl für Russen geweckt hat.”
Und das hat nicht erst gestern angefangen. Schon im Dezember 2016, als das weltberühmte Alexandrow-Ensemble nahe Sotschi ins Meer gestürzt war, hatten den mehr als 90 Opfern, darunter 64 russische Künstler, jämmerlich wenige Menschen in Berlin die letzte Ehre erwiesen. Im Vergleich zu damals war das Aufgebot in den letzten Tagen vor der Botschaft doch recht zahlreich. Als ich am Dienstag wieder dort ankam, war der Zaun in seiner ganzen Breite mit Blumen und Trauerbekundungen bedeckt, auch wenn von einem Blumenmeer wie zu Zeiten von Bataclan oder Charlie Hebdo keine Rede sein konnte.
Dass ein völliges Debakel der Trauerbekundungen dennoch ausgeblieben ist, ist zum großen Teil engagierten Ost-Berlinern und kleineren Friedensinitiativen zu verdanken. Diese Menschen, von denen ich viele persönlich kenne, haben ein sehr menschliches Empfinden für herzliche symbolische Gesten und diplomatischen Anstand.
Das sind Menschen, die Russland ohne das übliche “Wenn und Aber” in ihren Herzen einfach verstehen und akzeptieren. “Die meisten solidarisieren sich hier generell mit Russland und seiner aktuellen Politik”, stellte der Sender RBB24 in seinem Bericht nüchtern fest und hatte damit recht. So hat antirussische Propaganda in Deutschland dafür gesorgt, dass aus einfachen menschlichen Gesten stiller Trauer mittlerweile auch eine subtile politische Botschaft wurde.
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