Von Geworg Mirsajan
In Wladimir Putins Ansprache an die Föderationsversammlung hat das außenpolitische Segment höchstens zehn Prozent eingenommen. Dennoch thematisierten 90 Prozent aller westlichen Publikationen über die Ansprache gerade diesen Teil – genauer gesagt, über dessen nukleare Komponente, nämlich Putins Aussage:
“Die strategischen Atomstreitkräfte befinden sich in einem Zustand der vollen Bereitschaft für einen garantierten Einsatz.”
Westliche Medien kommentierten dies nicht nur mit Behauptungen, dass Russland allen einen “nuklearen Armageddon” androhe. Manche blickten tiefer. So schrieb The Washington Post:
“Putin hat schon zuvor Russlands Bereitschaft für einen Einsatz seiner nuklearen Waffen angedeutet, doch die Warnung am Donnerstag war ungewöhnlich scharf.”
Auf den ersten Blick sagte Russlands Präsident nichts Besonderes. Rede um Rede erinnert er die westlichen Partner an die russischen Nuklearwaffen und daran, dass Moskau gemäß der eigenen Militärdoktrin bereit ist, sie einzusetzen – darunter in Fällen, wenn ein gegen Russland geführter konventioneller Krieg die Sicherheit und die Existenz des Landes bedroht.
Was den Ton der jetzigen Rede angeht, so war sie viel ruhiger, als etwa die Ansprache vor zwei Jahren, als Russlands Staatschef den Beginn der speziellen Militäroperation in der Ukraine angekündigt hatte. Damals sagte er:
“Wer auch immer uns hindern, und erst recht unser Land, unser Volk bedrohen sollte, soll wissen, dass Russlands Antwort entschieden sein und zu Folgen führen wird, mit denen ihr euch während eurer ganzen Geschichte nicht konfrontiert wurdet.”
Faktisch wurde dies als die Androhung eines atomaren Schlags aufgefasst, während es in der gegenwärtigen Rede nichts dergleichen gibt.
Worin besteht also die Schärfe?
Es geht nicht darum, dass Putin es sagte, sondern darum, wieso und in welcher Situation er es sagte.
Im Jahr 2022 wurde die Warnung “nur für den Fall der Fälle” ausgesprochen. Damals glaubten viele Experten, dass die Militäroperation nicht lange dauern und die Ukraine sich einsichtig zeigen werde. Putins Worte sollten damals die wahnsinnigsten westlichen “Falken” zur Besinnung bringen – jene, die zu lange Kalten Krieg gespielt hatten und dachten, dass man Truppen in die Ukraine verlegen und somit einen Atomkrieg riskieren sollte, nur um keinen Regimewechsel in Kiew zuzulassen. Kurzfristig hatte die Drohung damals funktioniert, und der Westen schickte keine Truppen.
Im Jahr 2024 ist der Kontext ein anderer. Heute wendet sich Putin nicht an eine Handvoll ideologisierter Radikaler, die offensichtlich selbstmörderische Entscheidungen um den Willen eines virtuellen Sieges fordern, sondern an einen bedeutenden Teil der westlichen Eliten. Diese Eliten stehen heute nämlich vor dem Hintergrund der russischen militärischen Erfolge und einer ernsthaften, hauptsächlich aber unumkehrbaren Schwächung der Möglichkeiten des Kiewer Regimes vor einem Dilemma aus zwei ihrer Meinung nach gleich inakzeptablen Optionen.
Die erste Option ist, Russlands strategischen Sieg in einem langjährigen Krieg zuzulassen. Dabei handelt es sich sowohl um den Sanktionskrieg als auch um den Proxykrieg mittels der umfassenden Unterstützung des Kiewer Regimes durch die NATO-Staaten. Eine Niederlage in diesem Krieg wird mindestens bedeuten, dass die USA und die EU in Zukunft die Möglichkeit verlieren, Gewaltanwendung zur Durchsetzung eigener Interessen in den Staaten der Dritten Welt anzudrohen, denn der Mythos der westlichen Allmacht wäre durch Russlands Hartnäckigkeit zerstört. Im schlimmsten Fall würde ein Sieg Moskaus zu ernsthaften Wirrungen in den westlichen Reihen führen, besonders in Europa, wo die USA nationale Regierungen über das Knie brachen, um sie zu zwingen, den antirussischen Sanktionen beizutreten. Entsprechend würde Russlands Beispiel gemeinsam mit einer Desintegration des westlichen Blocks zu einem rapiden Anstieg der Möglichkeiten und der Ambitionen von China, Iran und sonstigen Staaten und schließlich zu einem Zusammenbruch der amerikanisch geprägten Welt führen.
Die zweite Option wäre, um das oben beschriebene Szenario zu vermeiden, die Unterstützung des Kiewer Regimes erheblich zu steigern, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, etwa durch eine Entsendung westlicher Bodentruppen in die Ukraine. Diese Idee sprach Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an.
Und gerade bei diesem Szenario droht eine ernste Eskalation. Denn in der Praxis hätte es sich erwiesen, dass westliche Truppen russisches Territorium okkupieren, sodass Moskau im Rahmen seiner Nukleardoktrin durchaus Atomwaffen einsetzen könnte.
In jedem anderen Fall hätte dieses “durchaus” dazu geführt, dass Pläne einer Truppenentsendung verworfen worden wären. Doch für einen beträchtlichen Teil der westlichen Elite können tatsächliche und sichere Verluste bei einer militärischen Niederlage gegen Russland die theoretischen Risiken im Fall einer Entsendung von Truppen überwiegen.
Und das ist äußerst gefährlich – die Unvernunft des Westens kann durchaus einen Atomkrieg provozieren. Gerade deswegen führte jetzt Putin den westlichen Eliten zu Gemüte, dass es kein “vielleicht”, sondern nur einen “garantierten Einsatz” gibt.
Deswegen sah seine Erklärung vor dem Hintergrund des westlichen Dilemmas scharf aus. Bei der Wahl zwischen zwei für den Westen schlechten Varianten versuchte Russlands Präsident, den ehemaligen “Partnern” zu vermitteln, dass die Variante mit einer Entsendung von Truppen schlechter ist. Wenn sie also am Leben bleiben möchten, müssen sie sich allmählich mit einem russischen Sieg bei der Militäroperation abfinden und sich an dessen Folgen anpassen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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